Konzertlesung "Mensch Nazi" mit Stephan Krawczyk

Am 18. Juni 2014 erlebte ich einen Aufrtitt des Liedermachers und Schriftstellers Stephan Krawczyk mit einer Lesung aus seinem Buch "Mensch Nazi". Die neunzig Minuten seines Auftritts vor Schülerinnen und Schüler aus dem neunten und elften Jahrgang in der Bibliothek der FKS war eine Unterrichtsstunde ganz besonderer Art, in der die Grenzen zwischen Deutsch-, Geschichts- und Ethikunterricht fließend waren, denn mit Stephan Krawczyk trat nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein beeindruckend authentischer und auf sympathische Weise unprätentiöser Zeitzeuge deutscher Geschichte auf, der mit der Lesung aus seinem Buch eine nicht alltägliche Perspektive auf ethische Aspekte des gesellschaftlichen Miteinanders eröffnete.

Stephan Krawczyk trug während und nach der Lesung auch einige Lieder aus seinem Repertoire vor. Nun gehören Liedermacher der im besten Sinne "alten Schule" nicht unbedingt zum Spektrum der von Jugendlichen dieser Altersgruppe bevorzugten Interpreten und so war der konzertante Teil eine Herausforderung an die Hörgewohnheiten der Schülerinnen und Schüler. Doch das kraft- und zugleich kunstvolle Gitarrenspiel Stephan Krawczyks sowie die bildmächtige und zugleich klare Sprache der Liedtexte zogen die Schüler schnell in ihren Bann, besonders die Lieder "König Narr" und "Hundeliebe", die 2009 auf der CD "Lieber Lieder" erschienen, hinterließen bei den Schülerinnen und Schülern einen starken Eindruck.

Der Roman "Mensch Nazi" entstand aus dem Eindruck einer zufälligen Begegnung Stephan Krawczyks mit einem ehemaligen Neonazi namens Klemens in einer Kreuzberger Kneipe, der Krawczyk seine Lebensgeschichte erzählte und basiert somit auf tatsächlichen Begebenheiten und Erlebnissen. Es ist zunächst die Geschichte der misslungenen Sozialisation eines jungen Menschen, dessen Mutter früh starb und der bis zu seinem zwölften Lebensjahr im Kinderheim aufwuchs, in einer Zeit des radikalen Umbruchs und zugleich Wegbrechens bis dahin geltender Werte und Orientierungspunkte. Es ist die Geschichte des Wegdriftens junger Menschen in ebenso verquere wie gefährliche Ideologien, in deren Kontext obskure Anführer Halt in vermeintlicher Kameradschaft und so etwas wie Orientierung zu versprechen scheinen. Aus einer Mischung aus Protest und Langeweile rasieren sich die Jugendlichen Glatzen und kleiden sich uniform - sie wollen endlich bemerkt werden, und wenn es auch nur durch abstoßendes Auftreten ist. Welcher Gruppierung sich die Jugendlichen in ihrer Suche nach Aufmerksamkeit anschließen, bleibt mehr oder weniger dem Zufall überlassen und hängt letzlich nur vom Wohngebiet und dem sozialen Umfeld ab, in dem sie leben.

Den Anstoß zu einer Entwicklung, die Klemens schließlich den Ausstieg aus einer trostlosen Spirale von orientierungsloser Suche, emotionaler und sozialer Verwahrlosung, Einsamkeit und Gewalt ermöglicht und gelingen lässt, gibt ihm die Begegnung mit einem kleinen, selbstbewussten Jungen. Der schlägt ihm nämlich den Tausch eines Buches gegen eine Kette vor, die Klemens um den Hals trägt. Verblüfft willigt Klemens in den kleinen Handel ein und beginnt sogleich, das Buch zu lesen, einen Band der Kinderbuchserie "Drei lustige Gesellen" - das sind die Wichtel Halbschuh, Moosbart und Muff - des estnischen Autors Eno Raud. Die Lektüre lässt Klemens nach und nach erkennen, dass es an ihm - und nur ihm - ist, endlich sein Leben selbst ordnend und sinnstiftend in die Hand zu nehmen.

Stephan Krawczyk verflicht den Lebensbericht des Klemens mit einem ebenfalls tatsächlich stattgefundenen Gespräch mit seinem damals siebenjährigen Sohn über Recht und Unrecht. An dieser Stelle findet sich Krawczyks Antwort auf die Herausforderung ideologischer Verblendung: Die Verantwortung und Verpflichtung liegt im nächsten sozialen Umfeld. Im familiären und schulischen Rahmen muss dafür gesorgt werden, dass Kinder sich zu verantwortungsvollen, sozial engagierten Menschen entwickeln können. Nur so kann soziale Verwahrlosung vermieden werden, aus der schlussendlich Gewaltbereitschaft resultiert. Stephan Krawcyk hat dabei den Mut, in dem Neonazi auch den (Mit-)Menschen zu sehen. Aber mehr noch - Krawczyk benennt es zwar nicht ausdrücklich, erinnert uns aber implizit auch an das Gebot der Nächstenliebe (3. Mose 19,18) und an dessen Erweiterung durch Jesus' Worte zur Feindesliebe in der Bergpredigt (Matthäus 5,43-48). Im fraglos anstrengenden und immer komplexer werdenden Alltag neigen wir dazu, den einfacheren Weg zu gehen und die Nächstenliebe den Unkomplizierten, uns Angenehmen und Sympathischen zuteil werden zu lassen und jenen zu widmen, die unser Mitleid wecken. Das ist zwar gut und richtig, aber die Botschaft der Bergpredigt weist weit darüber hinaus, nämlich dass die Nächstenliebe ebenso den Problematischen und Komplizierten, den uns wenig Genehmen, Unsympathischen oder gar Abstoßenden - bis hin zu den offen Feindseligen - gelten solle. Das bedeutet nicht, inakzeptables Verhalten zu relativieren oder gar zu ignorieren, sondern die Bereitschaft und die Empathie aufzubringen, den Anderen als Mitmenschen zu respektieren, ihm genau zuzuhören und sich kritisch und eben nicht nur verurteilend mit ihm auseinanderzusetzen. Oder wie Jesus es der Überlieferung nach dem Matthäus-Evangelium zufolge in der Bergpredigt formulierte: "Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? " (Anmerkung: Die "Zöllner" waren Steuereinnehmer und trieben Steuern für die römischen Besatzungsmacht. Sie galten deswegen und wegen ihrer Korruptheit als besonders verachtenswerte Sünder.) Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern ließen erkennen, dass diese Botschaft auch bei ihnen angekommen ist.

Links:

Stephan Krawczyks Webseite
stephan-krawczyk.de