Zum Tod von Eduard Limonow

"Ich hasse es, euch Ausländern Russland zu erklären. Ihr versteht es eh nicht." - Eduard Limonow ist tot. Heute wurde bekannt, dass Limonow gestern, am 17. März, in Moskau im Alter von 77 Jahren verstarb. Wie beschreibt man Limonow am besten - er war lebenslanger Dissident, Politdesperado, begnadeter Schriftsteller, Inspirator und Leitbild für zwei, drei Generationen zorniger, junger Menschen in Russland.

Er war in den 1960er Jahren Untergrundliterat im Stil der russischen Avantgarde, nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion Exilant in den USA, wo er den Westen verachten lernte und schnell zum Dissidenten innerhalb der russischen Dissidentenszene in New York wurde. Später zog er nach Frankreich und wurde mit seinem Erstlingswerk "Это я - Эдичка" ("Ich bin es - Editschka", in Deutschland unter dem reißerischen Titel "Fuck Off, America" erschienen, Editschka ist der in Russland so beliebte Namens-Diminutiv zu Eduard) zum gefeierten Star der französischen, konkret der Pariser Literaturszene und Bohème. Eigentlich hieß er Sawenko mit Nachnamen, das Pseudonym Limonow wählte er in Anlehnung an die лимонка (Limonka), das ist der russische Spitzname für die 1940 eingeführte Splitterhandgranate vom Typ F-1.

Im Jahr 1991 erhielt er von Gorbatschow persönlich die sowjetische Staatsbürgerschaft zurück, 1992 kämpfte er auf der Seite der Serben unter dem Kommando von Radovan Karadžić in Bosnien. 1993 gründete er die Национал-большевистская партия (НБП, Nationalbolschewistische Partei NBP), wo sich seine Vita mit der Jegor Letows trifft. Letow trat der Partei nach Aleksandr Dugin als Mitglied Nummer 4 bei und veranstaltete 1994 für die Partei mit seiner, zu diesem Zweck wieder aktivierten Band Гражданская Оборона eine Serie von Konzerten unter dem Titel "Русский прорыв" ("Russischer Durchbruch"). Es waren drei Grundmotive, die Letow und Limonow ("Ich hasse den Staat") verbanden und die Letow so formulierte: "Я всегда буду против!" ("Ich werde immer dagegen sein!" im Lied "Против"), ...
https://www.youtube.com/watch?v=fgD765DBFcw
... "Но при любом госстрое я партизан" ("Aber in jedem Staat werde ich Partisan sein" im Lied "Новый 37") ...
https://www.youtube.com/watch?v=mOgPskNP6RA
... und "Убей в себе государство!" ("Töte den Staat in dir!" im Lied "Государство")
https://www.youtube.com/watch?v=bgwDhdyaK-E

In Gedenken an Limonow - Jegor Letow und Гражданская оборона - Konzert aus der Serie "Русский прорыв" am 11. Dezember 1994 im Nowosibirsker Kulturpalast "Tschkalow"
Video in YouTube (   hier) mit Zeitmarken und Links zu Infos und Texten.

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Limonow wurde im April 2001 verhaftete und verbrachte die nächsten zwei Jahre im Lefortowo-Gefängnis des FSB, im April 2003 wurde Limonow wegen illegalen Waffenbesitzes und der Bildung illegaler bewaffneter Organisationen zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Am 15.11.2005 wurde die НБП als verfassungsfeindlich verboten, aber Limonow blieb sich weiterhin treu. Einerseits gründete er mit der Dissidentin Ljudmila Alexejewa die Bewegung Стратегия-31 (Strategie 31), andererseits 2010 die Partei Другая Россия (Anderes Russland, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, 2006 gegründeten Parteienbündnis) - zugleich überwarf er sich mit der sogenannten liberalen Opposition, der er Dummheit und Verrat vorwarf.
Der "Liebende, Leidende, Hassende und Dreckskerl", wie er sich selbst beschrieb, war das exakte Gegenteil dessen, was man heute für opportun hält - auch das hatte er mit Letow gemeinsam - nämlich der radikalste Gegenentwurf zum Typus des an den liberalistischen, politisch-sozial korrekten Mainstream angepassten, sozusagen wohltemperiert hedonistischen Zeitgenossen. "Ich liebe den Irrsinn. Mein ganzes Leben beweist das. Ich kultiviere nicht die Logik, sondern die Ekstase" erzählte Limonow seinem Biografen Emmanuel Carrère. "Limonow [...] war ein Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds, Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt [...] ist er der alte, charismatische Chef einer Partei von jugendlichen Desperados." (Emmanuel Carrère)

Limonow war wie ein überzeichnetes, komprimiertes Bild Russlands und sein Leben wie ein avantgardistischer Film über die Zeit der Stagnation, den Zerfall der Sowjetunion und die 1990er Jahre des Chaos. Darüber hinaus war Limonow in gewisser Weise wie Russland selbst - so, wie Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew es 1866 formulierte: "Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land." Man kann es nur lieben oder hassen, dazwischen gibt es nichts. Ich liebte Limonow - wie ich Russland liebe.

Eduard Limonow im Interview mit Boris Kagarlizkij: Die Realität der Revolution
Zum Verstehen des Interviews sind robuste Russischkenntnisse erforderlich, wer die nicht hat, bekommt immerhin einen Eindruck von Limonows Sprachmächtigkeit und Charisma. Wer russische Schrift lesen kann und über einen gewissen Fundus an Vokabeln verfügt, aber Probleme mit dem Verständnis gesprochener Texte hat, sollte die russischen Untertitel einblenden (auf das kleine Zahnrad rechts unten klicken). Der Interviewer Boris Kagarlizkij bei Wikipedia (en): https://en.wikipedia.org/wiki/Boris_Kagarlitsky.

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Anmerkung zum Nationalbolschewismus:
Das hierzulande übliche Bild von einer bloßen Variante des Faschismus erfasst weder die Komplexität der historischen Entwicklung und politischen Dimension des Nationalbolschewismus im Allgemeinen noch auch nur ansatzweise den Kern des russischen Nationalbolschewismus in Gestalt der НБП. Dass diese Zuordnung entlang der hiesigen, ideologischen Frontlinien, die in den letzten Jahren beidseitig quasi betoniert wurden, so einfach nicht ist, zeigt Limonows Bündnis mit Ljudmila Alexejewa in der Bewegung Стратегия-31. Die Historikerin und Sowjetdissidentin war 1976 Gründungsmitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe und vertrat diese von 2004 bis zu ihrem Tod 2018 als Mitglied im Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten. Das zeigt auch das Urteil von Jelena Bonner, der Witwe Andrei Sacharows, über Limonow, als sie befand, er hätte komische Seiten, wäre aber mutig und einer der wenigen, die nicht fatalistisch sind. Jenseits der hiesigen Zuschreibungen war die НБП vielmehr ein Sammelbecken anarchistischer, syndikalistischer, links- und rechtsradikaler, nationalistischer und postmodernistischer Bewegungen, deren programmatischer kleinster gemeinsamer Nenner der Kampf gegen den westlichen Liberalismus und den Globalismus war (und in den Nachfolgebündnissen ist). In diesem Sinne war die НБП eine Querfrontpartei, deren Wurzeln nicht zuletzt im nationalen Trauma des Zusammenbruchs der UdSSR liegen (was hierzulande schwer vorstellbar ist, allenfalls ehemalige DDR-Bürger haben eine leise Ahnung davon, Zeitgenossen, die das Nachkriegstrauma kennen, gibt es nur noch wenige).

Die Wurzeln des historischen Nationalbolschewismus liegen im Hamburger Nationalkommunismus der Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), die sich Anfang April 1920 von der KPD abspaltete. Gründungsmitglieder waren Hamburgs "roter Diktator" (11.11.1918 - 20.01.1919) Heinrich Laufenberg und Fritz Wolffheim, die ihrerseits jedoch schon am 14.08.1920 wegen "nationalbolschewistischen Sektierertums" aus der KAPD ausgeschlossen wurden. Beide gründeten den bedeutungslos gebliebenen "Bund der Kommunisten", Wolffheim verließ den BdK 1925 und schloss sich 1930 der Gruppe Sozialrevolutionärer Nationalisten (GSRN) um Karl Otto Paetel an, deren zentraler Programmpunkt ein Bündnis des Deutschen Reiches mit der Sowjetunion war. Wolffheim verstarb 1942 im KZ Ravensbrück. Paetel veröffentlichte am 30.01.1933, dem Tag von Hitlers Machteinsetzung, für die GSRN das "Nationalbolschewistische Manifest", seitdem ist der Begriff, der ursprünglich von Karl Radek als abwertend gemeinte Bezeichnung für die Politik Laufenbergs und Wolffheims geprägt wurde, die allgemein gültige Benennung für dieses politische Konzept.

Leseempfehlungen:
Carrère , Emmanuel: Limonow. btb-Verlag, München 2014.
Limonow, Eduard: Fuck off, Amerika. KiWi Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004.