Die vergessenen Kinder

Ausgangspunkt dieses Textes ist einerseits eine Befragung der Bundesregierung am 27.01.2021 ab 13:20 Uhr, konkret der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Franziska Giffey zu den - was sonst - Erfolgen der Familienpolitik der Bundesregierung in Gestalt des "Gute-Kita-Gesetzes" und des "Starke-Familie-Gesetzes". (Wer denkt sich eigentlich diese idiotischen Bezeichnungen aus? Wird etwa jemand dafür bezahlt?)

Befragung Familienministerin Giffey https://www.youtube.com/watch?v=05M69ZmPF_w
Franziska Giffey zieht positive Bilanz https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/...

Andererseits ist das ein Beitrag einer Facebook-Userin, die befand, dass Kinder im Homeschooling regelrecht aufblühten. Sicher gibt es Kinder, die im Homeschooling aufblühen, ob es aber "jede Menge" sind, ist höchst fraglich. Insgesamt geht diese Sicht der Dinge an der Realität in Gestalt der Lebenswelt sehr vieler Kinder vorbei. Womit die Facebook-Userin allerdings nicht allein ist, sondern in nobler Gesellschaft der Politiker, zumindest derer, die entscheiden. Ich habe bis zum Sommer 2019 länger als eine Dekade an einer großen Neuköllner Gesamtschule gearbeitet, die ab 2008 zur Gemeinschaftsschule wurde, die sich also der inklusiven resp. inkludierenden Pädagogik verpflichtet sieht und auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf beschult. Eine Debatte über Für und Wider der Inklusion ist an dieser Stelle fehl am Platz, wer nicht weiß, was Inklusion in der Bildung konkret bedeutet und was sie leisten soll, kann das hier nachlesen:
Inklusion - Beratung, Förderung, Schulen https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/inklusion/
Bildungsserver Berlin-Brandenburg - Inklusion https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/inklusion

Nur soviel - ich sehe es skeptisch, wenn die Realisierung einer solch komplexen Aufgabe mit einem linguistischen Trick begonnen wird. Die Selbstverpflichtung der Bundesregierung zur Inklusion ergibt sich aus der Unterzeichnung der Convention on the Rights of Persons with Disabilities (Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) der Vereinten Nationen vom 03.05.2008, die in Deutschland 26.03.2009 in Kraft trat. Der linguistische Trick in Bezug auf Artikel 24 (Bildung) der Konvention besteht darin, dass aus dem Gebot "shall ensure" in der deutschen Übersetzung ein quasi unhintergehbar verpflichtendes "gewährleisten" wurde - ungeachtet der Tatsache, dass im Schlussartikel 50 allein der arabische, der chinesische, der englische, der französische, der russische und der spanische Wortlaut als verbindlich festgeschrieben sind.
Hier das Original: https://treaties.un.org/doc/Publication/...
Hier die deutsche Übersetzung: https://www.behindertenbeauftragte.de/SharedDocs/...

Eine mittlerweile erwiesene, aber vorher schon absehbare Tatsache ist allerdings, dass Inklusion nur gelingen kann, wenn sowohl die materiellen als auch die quantitativen und qualitativen personellen Voraussetzungen gegeben sind - und das sind sie bis heute nicht einmal im Ansatz. Genauso dilettantisch, wie der Berliner Senat das Thema anging, setzt er es bis heute fort.
Tagesspiegel: Senat kennt die Kosten für den Umbau von Schulen nicht
Verstärkt wird dieser missliche Effekt durch die nachgerade sagenhafte Inkompetenz der Berliner Bildungspolitik.
Tagesspiegel: 25 Jahre SPD-Bildungspolitik in Berlin – die Geschichte eines Versagens

Doch zurück zum eigentlichen Thema - an der oben erwähnten Schule wurden seinerzeit ungefähr 1.250 Kinder beschult, mittlerweile sind es mit dem Übergang von der Sechs- zur Fünfzügigkeit in der Mittelstufe (Klassen 7 bis 10) etwas weniger. Der Verteilungsschlüssel sieht vier Kinder mit Förderbedarf pro Klasse mit insgesamt je 25 Kindern vor. In der Praxis hat der größere Teil die Kinder eine attestierte emotional-soziale Entwicklungsstörung (ESE) und was das aus pädagogischer Sicht bedeutet, schildert dieses Zitat.

»Schülerinnen und Schüler, die den Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung erhalten, sind in aller Regel stark beeinträchtigt. Um leichte Anpassungsprobleme handelt es sich nicht. Lebensgeschichtlich weisen sie erhebliche Belastungen auf, die zu Bindungsstörungen, unzureichend entwickelten psychischen Strukturen, gravierenden inneren Konflikten und nicht selten Traumatisierungen geführt haben. [...] Wie kaum eine andere Personengruppe stellen Schülerinnen und Schüler die Unterrichtenden vor schwierige, mitunter kaum lösbare pädagogische Aufgaben. [...] Ein pädagogischer Zugang zu dieser Personengruppe ist auch dadurch erschwert, dass sie häufig ein erhebliches Maß an persönlicher Zuwendung und Geduld benötigen, die im pädagogischen Alltag nicht immer leicht aufzubringen sind. [...] Die Kinder und Jugendlichen entziehen sich deshalb konventionellen pädagogischen Bemühungen. Damit die dadurch entstehenden Aufgaben bewältigt werden können, bedarf es fast regelhaft einer hoch qualifizierten sonderpädagogischen Unterstützung.«
Zitate aus Expertise Prof. Ahrbeck für den Verband Bildung und Erziehung
Quelle: Welchen Förderbedarf haben Kinder mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen?“

Hier ein Bericht aus dem inklusiven Alltag in einer Neuköllner Schule.
Tagesspiegel: Was tun, wenn Schüler ausrasten?
Glaubt irgendwer ernsthaft, dass diese Kinder im Homeschooling "aufblühen"? Zumal allein der Name der Störung eine soziale Problematik im näheren Umfeld der Kinder impliziert? Zu bedenken ist, so sehe ich es jedenfalls, dass mit der Attestierung eines ESE-Status vielfach soziale Probleme quasi pathologisiert und so in den förder- bzw. inklusionspädagogischen Bereich verschoben werden, was nichts anderes heißt, als dass die Korrektur oder gar "Reparatur" der Folgeprobleme sozialer Missstände in die Schule und konkret an das Lehrpersonal delegiert werden.

Hier ergibt sich als weiterer Aspekt der soziale Status des Elternhauses. Quantitativ abzulesen ist der an der Lernmittelbefreiungen, das heißt die Befreiung von der jährlichen Zuzahlung für Lernmittel für ALG-II- und Sozialgeldbezieher (oder ähnliche Leistungstransfers). In besagter Schule lag der zu meiner Zeit bei ca. 20 bis 25 Prozent, was für Neuköllner Verhältnisse wenig ist, in der Regel sind es in Neukölln mehr als fünfzig Prozent. Was natürlich nicht heißt, dass sozial prekäre Elternhäuser generell emotional-sozial auffällige Kinder zur Folge haben.
Berliner Zeitung: Lernmittelbefreiung: Jeder dritte Berliner Schüler arm

In der konkreten Situation, in welcher sich die Nation im Allgemeinen und die Kinder im Besonderen seit dem 22. März 2020 befinden, ist der soziale Aspekt für die Bildung und vor allem für die Bildungschancen von sehr viel größerer Relevanz mit teils dramatischen Folgen, als er das bis dahin sowieso schon war. Allerdings scheint das keine und keinen der Verantwortlichen sonderlich zu interessieren. Ich muss nicht en detail darauf eingehen, wie sich das soziale Umfeld dieser Kinder gestaltet - von den sogenannten bildungsfernen Eltern über prekäre finanzielle Verhältnisse bis zu beengten Wohnverhältnissen, in denen sich drei oder mehr Kinder ein Zimmer teilen. (Beispiel: Auf der gleichen Fläche, die ich im vierten Stock - das eben gerade für angemessen haltend - bewohne, wohnt zwei Treppen tiefer eine Familie mit drei Kindern im schulpflichtigen Alter.)
Ist unter diesen Umständen ein sinnvolles, weil zielführendes Homeschooling möglich, geschweige denn zu erwarten? Ich rede hier nicht von fünfzig oder hundert Kindern, sondern allein in Berlin von etwa 98.500. Laut Schulstatistik des Amtes für Statistik Berlin Brandenburg besuchen etwa 365.000 Schülerinnen und Schüler die Berliner allgemeinbildenden Schulen, über 27 Prozent der Berliner Kinder leben in ALG-II-Haushalten. Die Kinder mit Förderstatus sind in dieser Zahl nicht gesondert ausgewiesen und nicht in Gänze eingerechnet, gleichwohl es Überschneidungen gibt.
Statista: Kinder in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften Juni 2020
Dieser Text beschreibt die konkreten Probleme in der derzeitigen Situation:
Tagesspiegel: Neukölln - ein Drittel unserer Eltern hat digitalen Anschluss

Nicht eben besser wird die Situation durch den Umstand, dass die Berliner Schulen seit Dezember 2011 (und noch bis Herbst 2021) unter der Deutungs- und Verwaltungshoheit einer so exzellenten, kommunikativ perfekten und führungsstarken Fachkraft arbeiten müssen, wie die Bildungssenatorin Frau Scheres eine ist. (Das war Sarkasmus.) Aber dieses Kapitel steht auf einem anderen Blatt und es wäre sicher auch eine Erörterung wert, das führte aber hier jedoch zu weit. Abgesehen von dem Phänomen, wie lange Politiker reden können, ohne etwas zu sagen, erstaunte mich allerdings die Tatsache am meisten, dass in der oben genannten Befragung das Problemfeld "Inklusion in Corona-Zeiten" mit keinem einzigen Wort erwähnt und die soziale Problematik allenfalls am Rande mit wenigen Worten gestreift wurde. Dabei müsste Frau Giffey es besser wissen, schließlich war sie seit 01.09.2010 Bezirksstadträtin für Bildung, Schule, Kultur und Sport von Berlin-Neukölln, bis sie am 15.04.2015 Bürgermeisterin von Neukölln wurde, und als solche für die bau- und austattungstechnische Realisierung der Inklusion in Neukölln verantwortlich. Irgendwie scheint ihr das nebst der diesbezüglichen Erfahrungen entfallen zu sein.



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