Anmerkungen zum 9. Mai, dem День Победы, Tag des Sieges

Am 9. Mai wird in der Russländischen Föderation der День Победы, der Tag des Sieges gefeiert. Dazu einige Anmerkungen. Der Tag war ein День Победы, ein Victory in Europe Day für die Alliierten und verschiedene okkupierte Länder und dort wird seiner auch so gedacht. Er war ein Tag der Befreiung für die Häftlinge in den Konzentrationslagern, den Vernichtungs- und Arbeitslagern und den Kriegsgefangenenlagern der Nazis. Er war ein Tag der Befreiung für die Menschen der okkupierten Gebiete, besonders in den Ländern, die mit Vernichtungskriegen überzogen wurden.

Für die große Mehrheit der Deutschen, die das Regime wählten, stützten, davon profitierten und bis zum buchstäblich letzten Tag daran festhielten, war dieser Tag der Tag der Kapitulation und des definitiven Endes des Deutschen Reiches. Für diese Menschen war dies kein Tag der Befreiung, sondern das Ende der Hybris, das Ende aller kriegerischen und politischen Optionen, wenn man diesen mörderischen Irrsinn so nennen kann. Deshalb sollte für uns Deutsche der nachfolgenden Generationen das ein Tag des Innehaltens, der Erinnerung und des Andenkens an die Opfer dieses mörderischen Krieges, ein Tag der Besinnung und der Demut vor dem unermesslichen Leid sein, das dieser Wahnsinn über die Menschen der Völker, in der Konsequenz auch über das deutsche Volk, brachte.

Ich lehne die Bezeichnung des Tages als "Tag der Befreiung" für die Deutschen in toto ab. Einerseits halte ich das - der obigen Darstellung folgend - für eine Anmaßung, denn das gilt nur für die Deutschen, die in Lagern und Zuchthäusern der Nazis überlebten und die wenigen, die das Regime im Untergrund oder, wie Victor Klemperer, in Verstecken überstanden. "Befreit" wurde die große Mehrheit, wenn auch oft nur teilweise, allenfalls von ihrem Wahn, und zwar nur durch die Macht des unausweichlich Faktischen, das dieser größere Teil - jeder durch ein kleines oder auch größeres Stück Mittun und Ignoranz - heraufbeschworen hatte.

Andererseits habe ich den Eindruck, dass diejenigen, die heute als Deutsche vom "Tag der Befreiung" reden, ihre Familienhistorie und damit letztlich auch sich selbst auf die Seite des Guten und nicht zuletzt der Sieger mogeln möchten. Dabei schwingt irgendwie auch die Grundüberzeugung mit, dass ihnen das nicht hätte passieren können, dass sie seinerzeit niemals mitgetan und stattdessen aufrecht und tapfer Widerstand geleistet hätten. Ich halte das für nicht minder anmaßend und für, freundlich formuliert, Selbstbetrug. Ich für meinen Teil würde das meinerseits nicht beschwören, vielleicht auch deshalb nicht, weil ich aus meiner Zeit in der DDR weiß, wie schwer es ist, sich gegen die Mehrheit zu stellen, also den Referenzrahmen der Gesellschaft zu verlassen und sich gegen das eigene System zu positionieren, wie es der von mir hochgeschätzte Söhnke Neitzel in der Folge "Untergang 1943-1945" der neuen, zehnteiligen ZDFinfo-Dokuserie "Der deutsche Abgrund" formuliert. Das ist natürlich um so schwieriger, je länger man in diesem System sozialisiert wurde, wobei die sozialen resp. kollektiven Zwänge und die Repressalien in der DDR zumindest in meiner dort verbrachten Lebenszeit (1957 bis 1984) keinesfalls mit denen im sogenannten Dritten Reich zu vergleichen sind - die DDR war, wie Günter Grass es zu Recht formulierte, eine "kommode Diktatur".

Während man sich in Westdeutschland mit dem 8. bzw. 9. Mai von Anfang an schwer tat, wurde in der DDR der "Tag der Befreiung" als Gedenktag begangen. Das folgte einem Selbstverständnis, demzufolge die DDR sich als antifaschistischer Staat sah, der keinerlei faschistische Tendenzen zuließ. Interessant ist in diesem Kontext dieses Buch, das zum 20. Jahrestag des Tages in der DDR erschien.
"Dank Euch, ihr Sowjetsoldaten!" https://archive.org/details/DankSowjetsoldaten1965/mode/2up
Das war formal und dem Bemühen nach auch so, es gab im StGB der DDR den Paragraphen 92 "Faschistische Propaganda, Völker- und Rassenhetze", der entsprechende Taten mit zwei bis zehn Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung bedachte, dazu wurden faschistische Äußerungen in den §§ 106 und 220 mit Strafen belegt. Wie brüchig das allerdings war, zeigte sich ab Mitte der 1980er Jahre mit dem immer offeneren Auftreten hauptsächlich junger Neonazis, aber auch am Aufbrechen eines Alltagsrassismus, als dem DDR-Staat so nach und nach die Macht entglitt. Im Grunde folgte der "Tag der Befreiung" in der DDR einer Logik, die Josef Wissarionowitsch Stalin in seiner Eigenschaft als Volkskommissar für Verteidigung (19.07.1941 bis 03.03.1947) in seinem Befehl Nr. 55 von 23. Februar 1942 formulierte.

»Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Krieg für die Befreiung des Sowjetbodens zur Vertreibung oder Vernichtung der Hitlerclique führen wird. Wir würden einen solchen Ausgang begrüßen. Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volke, mit dem deutschen Staate gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.«
[1 Quelle]

Und heute? Bedauerlicherweise ist gerade für den День Победы von Gedenken und Besinnung in den letzten Jahren immer weniger zu spüren, während der VE-Day zwar auch nur bedingt angemessen, so doch aber hinreichend geeignet für allfällige Sonntagsreden gewürdigt wird. Damit darf man in der Föderation nicht mehr rechnen, stattdessen geht man hierzulande dazu über, offen mit Dreck zu werfen - sofern der Tag, wie in diesem Jahr - in Politik und Leit- und Qualitätsmedien nicht komplett ignoriert wird. Wie heute über die Föderation Meinung gebildet wird, hat in einem Zeit-Artikel vom 30.04.2021 ausgerechnet Alan Posener beispielhaft demonstriert. Posener will in Warnungen vor einem neuen Kalten Krieg und dem Wunsch nach Partnerschaft mit der Föderation und nach Wandel durch Annäherung ein "Säuseln" (schreibt er tatsächlich!) der "Gazprom-Fraktion" in der deutschen Politik erkannt haben. Er findet sowieso, dass man sich - so bei einigen Politiker und Zeitgenossen denn vorhanden - von einer etwaigen moralische Pflicht zum Bemühen um Frieden mit Russland wegen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion verabschieden sollte, weil Putin die Außenpolitik der Zaren prolongiere und - was sonst - böse zu Nawalny sei. Eingerahmt ist das Ganze von einem grotesk die Historie bis zur Unkenntlichkeit verzerrenden Ritt durch die jüngere Zeitgeschichte seit Friedrich Engels' Essay "Die auswärtige Politik des russischen Zarentums" vom Mai 1890 - Grundtenor: was immer Schlechtes, Böses, Verwerfliches hienieden passiert - der Russe war's. Der Text ist so schlecht, dass ich mich weigere, ihn hier zu verlinken, wer es lesen will, kann es auf der Zeit-Netzseite tun.

Poseners Haltung ist auf seine Weise - wenn auch nicht ganz so erfolgreich - typisch für ein westdeutsches Phänomen, für das exemplarisch Zeitgenossen wie Joscha Schmierer, Reinhard Bütikofer und Ralf Fücks mit seiner anti-russisch und pro-ukrainisch ("Hat wer Faschisten gesagt? Ja, wo laufen sie denn?") Propagandaanstalt "Zentrum Liberale Moderne" ("im Rahmen der institutionellen Förderung finanziell aus dem Bundeshaushalt unterstützt", Wikipedia) stehen. Ich habe das ich hier schon kurz erörtert.
Von Pol Pot lernen, heißt siegen lernen! https://www.mentopia.net/...siegen-lernen
Posener war langjähriges Mitglied der KPD-AO (Aufbauorganisation), einer - wie der KBW auch - streng maoistisch orientierten und damit extrem sowjetfeindlichen Politsekte. Das Phänomen besteht darin, dass zahlreiche Mitglieder dieser maoistischen Organisationen nach dem Ende ihrer Parteien Anfang/Mitte der 1980er Jahre in der Regel über die Grünen, aber auch über die SPD, in hohe und höchste Funktionen in Politik und Medien der Bundesrepublik aufstiegen. Sowohl der KBW als auch Poseners KPD-AO waren der UdSSR nicht nur ablehnend, sondern feindlich gesonnen, beide Parteien sahen sich der Politik von Mao Tse-tung, Enver Hoxha (Sozialistische Volksrepublik Albanien), Kim Il-sung (Demokratische Volksrepublik Korea) und Pol Pot (Demokratisches Kampuchea, die Namen der Staaten sind Selbstbezeichnungen) verpflichtet und propagierten den "Großen Sprung" und die "Kulturrevolution" als probate Methoden sozialistischer bzw. kommunistischer Politik. All das ließen sie beim "Marsch durch die Institutionen" (Rudi Dutschke 1967 in Anlehnung an Mao Tse-tungs "Langen Marsch") hinter sich, was blieb, war der Hass auf die Sowjetunion, der sich nach dem Ende derselben im Dezember 1991 in eine veritable Russophobie wandelte.

Man kann von Putin halten, was man mag, ich als Deutscher habe ungefähr 30 Millionen gute Gründe, mich mit einer Bewertung des Präsidenten und der Politik der Föderation zurückzuhalten. (Die hier zu berücksichtigenden historischen Besonderheiten der Geschichte der Demokratie und der Entwicklung eines liberalen und konservativen Bürgertums in Russland habe ich oft genug erörtert.) Tatsache ist aber, dass Putin - wenn man genauer hinschaut - für die Damen und Herren Geostrategen in den transatlantischen Think Tanks, ihre Vollstrecker in der Politik und ihre Vasallen in den sogenannten NGOs und den Leit- und Qualitätsmedien diesseits der NATO-Grenzen nur ein Label ist, und zwar ein willkommenes. Ziel ist und bleibt das, was Zbigniew Brzeziński 1997 formulierte.

»Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf. Wie die folgende Karte zeigt, ist der gesamte Kontinent [Gemeint ist der eurasische. Anm. Kupfer] von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären. Die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft schafft die notwendige Voraussetzung für die Ausübung globaler Vorherrschaft.«
Brzeziński, Zbigniew: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. [2 Quelle]

Konkreter erläuterte George Friedman, Gründer und Chairman (CEO) der Thinktanks Stratfor (bis 2015) und Geopolitical Futures, das auf einer Veranstaltung des Chicago Council on Global Affairs am 03.02.2015.

»For the United States the primarily fear is German technology and German capital, Russian natural resources and Russian manpower as the only combination that has for centuries scared the hell at the United States.«
George Friedman: Europe: Destined for Conflict? [3 Quelle]

Kurz - es geht darum, Russland als - neben China, aber das hatte der zu dieser Zeit noch nicht wirklich auf dem Radar - einzigen weißen Fleck auf Brzezińskis Karte und als letztes klassisches Reich in kleine Einheiten zu zerschlagen, optimalerweise nach dem Vorbild der Zerschlagung der seinerzeitigen Bundesrepublik Jugoslawien. Mit einem wesentlichen Unterschied - die so entstehen sollenden Vasallen wären extrem reich an Ressourcen, die man wunderschön ausbeuten könnte. Da das - im Gegensatz zu Jugoslawien - militärisch (derzeit noch) unmöglich erscheint, sind ihnen Figuren wie Nawalny und Chodorowski Garanten für eine innere Spaltung der Föderation.

Posener ist natürlich eloquenter und intelligenter (was die Sache schlimmer macht) als jene, die einem seit drei, vier Tagen in den Kommentarzeilen der sogenannten sozialen Medien zu Texten russischer Medien und föderaler Organisationen zum День Победы ihren revisionistischen und revanchistischen Hass entgegenbrüllen. Posener kann im Gegensatz zu den Zweizeilern dieser Leute ganze Artikel verfassen, doch auch, wenn ich ihn keineswegs für einen Revisionisten oder einen Revanchisten halte, denke ich, dass er diese Typen zwar nicht intellektuell, aber doch emotional und quasi "moralisch" bedient und ihnen in die Hände spielt, sofern sie denn des verstehenden Lesens mächtig sind. Es ist einfach nur widerlich.

Fußnoten, Hinweise und Quellen


[2] Brzeziński, Zbigniew: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Kopp Verlag e.K., Rottenburg am Neckar 2019, S. 38

[3] George Friedman: "Europe: Destined for Conflict?" https://www.youtube.com/watch?v=vmmvaPOMrNs