Angela Merkel und der 22. Juni

Die Bundeskanzlerin hat sich am 19.06. auf dem YouTube-Kanal der Bundesregierung zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion zu Wort gemeldet. Ihr Auftritt war auf seltsame Weise erstaunlich und verstörend, weswegen ich ihn nachfolgend kommentiere.

Merkels Ansprache vom 19.06.2021 https://www.youtube.com/watch?v=XMoWvT2U3m0

Nach 21 Sekunden teilt die Kanzlerin der Nation mit: »Für uns Deutsche ist dieser Tag Anlass für Scham.«
Nein, das ist er nicht. Die Nachgeborenen, die jetzt lebenden Generationen, müssen sich nicht für die Verblendung, den Opportunismus und die Verbrechen ihre Eltern und Großeltern schämen. Scham ist als Affekt - Sigmund Freud beschrieb sie als "Triebabkömmling" - die völlig falsche mentale Kategorie, solche historischen Ereignisse wie den Überfall auf die Sowjetunion zu reflektieren. Scham hat immer eine narzistische Komponente, sie hat allenfalls eine soziale Schutzfunktion, um durch Vermeiden bestimmter Handlungen das Ansehen in der eigenen Gruppe zu schützen. Der auf diesem Gebiet wegweisende Psychiater Léon Wurmser schrieb zum Wesen der Scham: »Die radikalste Scham ist es schließlich doch, sich selbst der Liebe anzubieten und als liebensunwert verstoßen zu empfinden.«
Ich weiß nicht, ob die Kanzlerin - unbewusst oder nicht - den deutschen Angriff als zurückgewiesenes Liebesangebot der Deutschen an die UdSSR sieht, aber eine von Psychologie, Psychoanalyse und kognitiver Verhaltenstherapie gleichermaßen erwiesene Tatsache ist, dass aus Scham keine kognitiv reflektierenden Prozesse resultieren, sondern dass sie in der Regel Abwehrmechanismen nach sich zieht, die sich oft im Beschämen anderer, nämlich der vermeintlich für die eigene Scham Verantwortlichen, manifestieren.

Als hätte es eines Beweises für die Erkenntnisse Freuds und seiner Kollegen bedurft, macht uns die Kanzlerin in den 190 Sekunden Redezeit ihres Videos vor, wie diese Mechanismen funktionieren. Sie beginnt mit einer fast schon geschichtsrevisionistischen Relativierung und lässt die Nation ab der 40. Sekunde wissen: »Über 20 Millionen Männer, Frauen und Kinder – die Zahlen variieren [...] verloren ihr Leben.«
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen - "20 Millionen verloren ihr Leben", als wäre das ein quasi unvermeidliches Schicksal gewesen. Damit auch der letzte Revanchist begreift, dass wir die Opferzahl getrost um bummelig ein knappes Drittel reduzieren können, wird die Zahl in der 42. Sekunde als weiß unterlegte Texttafel über Merkels Dekolleté eingeblendet - "von Herzen kommend" quasi. Der Bundespräsident hingegen, der auch Merkels Staatsoberhaupt ist, war da korrekter und deutlicher, als er in seiner Rede am 18.06. sagte: »27 Millionen Menschen hat das nationalsozialistische Deutschland getötet, ermordet, erschlagen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht.«
Steinmeiers Rede vom 18.06.2021 https://www.bundespraesident.de/...Museum-Karlshorst.html

Die Merkel fährt fort mit dieser Aussage: »In Demut verneigen wir uns vor den wenigen heute noch lebenden Überlebenden dieses Angriffskrieges.«
Weder die Überlebenden noch sonst irgendein Russe erwartet, geschweige denn fordert von den nachfolgenden Generationen der Deutschen Demut oder Verneigungen. Sie erwarten Respekt und erhoffen ein Mindestmaß an Verständnis. Davon abgesehen - was heißt das? Nach meiner Sicht der Dinge nichts anders, als dass die Merkel damit ihre Überzeugung zum Ausdruck bringt, dass das leidige und beschämende Thema mit dem Ableben der wenigen Überlebenden abgehandelt, erledigt, perdu und passé ist. Dann, so die - sicher unbewusste - Intention der Merkel hinter ihren Worten, kann uns der Russe endlich nicht mehr mit dem Thema nerven, sondern uns fürderhin gepflegt den Buckel herunterrutschen. Was das exakte Gegenteil dessen ist, was die Russen von uns erwarten resp. erhoffen.

Ab der 97. Sekunden setzt bei Merkel der affektive Abwehrmechanismus ein - sie versucht, den vermeintlichen Verursacher ihrer Scham zu beschämen.
»Umso mehr schmerzt uns, wie in jüngster Zeit zivilgesellschaftliches Engagement in Russland, aber auch in Belarus, eingeschränkt, ja unmöglich gemacht wird. [...] Deutschland, wie die gesamte Europäische Union, kann auch nicht akzeptieren, dass Russland durch die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und durch die massive Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine Völkerrecht gebrochen hat und damit die europäische Nachkriegsordnung in Frage stellt.«
Mit unfassbarer Ignoranz zeichnet die Merkel bis zur 135. Sekunde, also in knappen 40 Sekunden, in kompletter Geschichtsvergessenheit ein extrem verkürztes und verzerrtes Bild der Situation in Neurussland und auf der Krim. Ich habe die Hintergründe mehrfach ausführlich erörtert.
Das Märchen von einer ukrainischen Nationalgeschichte https://www.mentopia.net/essays/133-das-maerchen...
Russland verstehen - ein historischer Exkurs https://www.mentopia.net/essays/137-russland-verstehen...

Wen es interessiert - wenn es jemanden interessiert -, kann es da nachlesen. Hier deshalb nur kurz - seit Katharina II. am 08.04.1783 proklamierte, die Krim wäre "von nun an und für alle Zeiten russisch", ist sie das auch. Die angebliche territoriale Zugehörigkeit zur Ukraine bezieht sich auf Chruschtschows, im Alleingang und unter Bruch der Verfassungen der UdSSR und der RFSSR durchgezogene, Unterstellung der Krim als autonome Region unter die Verwaltungshoheit der USSR (Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik) und das war lediglich verwaltungstechnischer und nie territorialer Natur.

Ganz sicher ist das Gedenken an den 22. Juni kein passender Rahmen, das Nachfolgende zu erörtern, allerdings ein passenderer, als für Russland-Bashing - natürlich kommt von Frau Merkel kein Wort zur Faschisierung der ukrainischen Politik seit dem sogenannten "Euro-Maidan", kein Wort zu den rassistischen Minderheitengesetzen der letzten Jahre, kein Wort zu bewaffneten Einheiten in Divisionsstärke als offizielle Teile der ukrainischen Streit- und Sicherheitskräfte, die sich inklusive der Symbolik explizit in der Tradition der SS sehen, kein Wort über die zahllosen Denkmäler, Gedenktafeln und Ehrenhaine für NS-Kollaborateure, die seit 2014 wie Pilze aus dem ukrainischen Boden schossen.

Das eigentlich Perfide an Merkels Darstellung ist aber der Umstand, dass sie mit dem Affekt Scham direkt dessen Abwehrreflex verbindet und beides quasi ex cathedra und Kraft ihres Amtes als Kanzlerin dieses Landes der Nation als ihrer Meinung nach verbindliche Lesart verkündet. Das eigentlich Traurige hingegen ist, dass der größere Teil der Nation desinteressiert genug ist, solche Ausfälle zu ignorieren - und ein beträchtlicher Teil der Nation dämlich genug, sie zu glauben.

Die Verbrechen unserer Vorfahren verlangen uns nachgeborenen Generationen weder Scham- noch Schuldgefühle ab. Sie gebieten eine Pflicht, aus der Verantwortung resultiert, nämlich Herauszutreten aus der Ignoranz, dem als fremd Empfundenen mit Arroganz, Selbstgerechtigkeit und Anmaßung zu begegnen, was viel einfacher, bequemer und selbstgefälliger ist, als sich damit zu beschäftigen und wenigstens zu versuchen, das vermeintlich Fremde zu verstehen. Banalerweise genügt den meisten Deutschen die Sprachschwelle, um die alte und tiefe historische und kulturelle Verbindung zwischen Deutschland und Russland ignorieren zu können, weswegen die wenigsten Deutsche begreifen, dass dieser verfluchte Krieg im Grunde ein Bruderkrieg war. Der in Russland am meisten aufgelegte und gelesene fremdsprachige Autor ist mit all seinen Büchern Erich Maria Remarque, ein Deutscher. Und in Deutschland? Kennt irgendwer die Werke von Bulgakow, Mandelstam, Scholochow, Babel? Ich meine, irgendwer außer mir, einer schmalen, langsam wegsterbenden Schicht Ostdeutscher und denen, die sich aus beruflichen Gründen damit befassen? Allenfalls Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" ist halbwegs bekannt - als Film.

Diese Pflicht, Herauszutreten aus der Ignoranz, impliziert zumindest grundlegende Kenntnisse der Geschichte des Russischen Reiches inklusive der der UdSSR, um Verständnis für die Situation und die politischen Verhältnisse in Russland zu entwickeln. Russland hatte nach tausend Jahren Absolutismus, Bolschewismus., Stalinismus und Stagnation bisher dreißig Jahre Zeit, demokratische Strukturen zu entwickeln. Deutschland bastelt seit 1848 daran, fiel für zwölf Jahre aus der Zivilisation - diese Zeit Barbarei zu nennen, ist eine Beleidigung für die Barbaren - und brauchte 45 Jahre betreutes Demokratisieren, um dort anzukommen, wo es jetzt ist, wobei die demokratische Decke hierzulande immer mal wieder recht dünn erscheint. In diesen dreißig Jahren auf dem Weg zur Demokratie wurden Russland immer wieder vom Wertewesten Knüppel zwischen die Beine geworfen und den Russen in die ausgestreckten Hände gespuckt. Entgegen den Zusagen von 1990, die es angeblich nicht gab, rückte die NATO bis an die russischen Grenzen vor, hier nachzulesen.
Ost-Erweiterung - Lebenslüge der NATO und des Westens https://www.mentopia.net/essays/171-ost-erweiterung...
Die Verlogenheit des Wertewestens gegenüber Russland und Putin hat Franziska Augstein, beileibe keine Freundin der Politik Putins, in diesem lesenswerten Artikel beschrieben.
Wladimir Putins wahres Gesicht https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wladimir-putins-wahres-gesicht...
Interessant in diesem Kontext auch das Gespräch von Richard David Precht mit Horst Teltschik.
Der Kalte Frieden - Russland und der Westen https://www.youtube.com/watch?v=QIRLZrX4ujA

Aber was will man von einer Nation erwarten, die in den Jahren nach der "Wiedervereinigung" offensichtlich mehrheitlich beschlossen hat, die eigene Geschichte nach Kräften zu ignorieren, und zwar in allen Aspekten - sowohl in den herausragend bewahrenswerten als auch in den katastrophal furchtbaren. So gesehen ist der Merkelsche Auftritt - schließlich ist sie in ihrer Eigenschaft als Homo politicus, als politisch handelnder Mensch, ein Produkt des historischen Prozesses "Wiedervereinigung" - vielleicht nur konsequent. Erschreckend in seiner Ignoranz bleibt er trotzdem - ebenso, wie die Tatsache, dass es in den Leit- und Qualitätsmedien niemandem auffällt, wenn die Kanzlerin ein gutes Viertel der Zeit ihres Gedenkens an den 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion für Russland-Bashing verwendet. Gleichzeitig erstaunt mich, dass so ein Statement ausgerechnet von Merkel kommt. Sie kennt Russland, spricht russisch und wurde in der DDR sowjetkonform sozialisiert. Ich hielt sie - zumindest in dieser Sache - für eine pragmatische und nicht-ideologische Politikerin - und nun das. Erklären kann ich mir das nicht wirklich.

Um Missverständnissen vorzubeugen - ich erwarte nicht, geschweige denn verlange ich, dass jemand sich das kyrillische Alphabet erschließt, was, sofern man nicht auf den Kopf gefallen ist, höchstens eine Stunde dauert. Keine und keiner muss Russisch lernen, was sehr viel länger dauert, und keine oder keiner muss sich auf russischen Webseiten ein konkretes Bild von dem Land machen, auch wenn das heutzutage mit den Übersetzern von Yandex und Google, die immerhin verständlich übersetzen, kein Problem mehr ist. Niemand muss Gogol, Ostrowski oder Solschenizyn lesen, niemand muss Letow, Ёлка oder Би-2 hören. All das verlange ich nicht. Es liegt an jeder und jedem selbst, sich dessen anzunehmen, dazu hat uns, Augustinus von Hippo und Duns Scotus folgend, der Herr das Potential eines libero arbitrio, wie Augustinus es nannte, eines freien Willen gegeben. Wenn man es aber nicht tut, sollte man sich mit wohlfeilen, weil zu schlicht nichts verpflichtenden Phrasen von Scham und Schuld bedeckt halten. All das erwarte ich nicht. Aber ich erwarte, dass sie oder er - frei nach Dieter Nuhr - dann aber einfach die Fresse hält, wenn es um Russland oder irgendwelche Belange der Föderation geht. Was, wie ich finde, nicht zu viel verlangt ist.