Wollen, wünschen, können - oder was?
Ein kleiner Ausflug in die Welt akademischen Unfugs

Es scheint hierzulande eine Art Mode geworden zu sein - wann immer der philosophierenden Zunft kontemplativ zumute ist, wann immer sie in all der Mühsal, von den harten Lehrstühlen deutscher Universitäten herab der tumben Menschheit Sinn und Zweck ihrer Existenz erklären zu müssen, ein wenig Zeit und Muße findet, neigt sie dazu, sich der Erörtertung des Willens zu widmen und ein Viertelstündchen das zu ventilieren, was sie für den freien Willen hält.

Ein besonders seltsames Exemplar einer solchen Erörterung fand ich auf YouTube [1], in dem uns ein Professor Dr. Wilhelm Vossenkuhl mit seinen Antworten auf die Frage "Haben wir einen freien Willen?" beglückt. [2] [3]

Vossenkuhl beginnt seinen kleinen Exkurs mit der Feststellung "Wir Menschen sind eigensinnige Wesen." und formuliert daraus seinen "ersten Hauptsatz des Eigensinns und der lautet ganz einfach 'Ich kann machen, was ich will'. Meistens heißt das im Klartext: 'Ich will nicht das, was du willst, sondern was ich will.'" Das wiederum veranlasst ihn zu der Vermutung, dass "hinter dem Eigensinn der freie Wille des Menschen steckt." An dieser Stelle hätte Vossenkuhl nach einer Minute und vierzehn Sekunden seinen Vortrag beenden können, denn der Mann hat das Kunststück vollbracht, in fünf Sätzen alle Klischees zum Thema Willen zu verrühren, die so durch die Welt beziehungsweise die Köpfe geistern. Vom impliziten "wo kommen wir denn da hin, wenn jeder macht, was er will" bis zur indifferenten Gleichsetzung von Wille, Wunsch und Begehren ist jedes Klischee in diesen fünf Sätzen präsent. Das tut er natürlich nicht und plaudert stattdessen noch dreizehn Minuten weiter, schließlich war das Ganze zur Ausstrahlung durch den Bayrischen Rundfunk vorgesehen.

Bemerkenswert ist an dieser Stelle allenfalls, dass Vossenkuhl hier den Begriff "Eigensinn" einführt und ihn quasi äquivalent zum Begriff "Willen" verwendet. Eigentlich wird der Eigensinn anders verstanden, und zwar negativ konnotiert. Bei Kirchner und Michaëlis können wir folgendes zum Eigensinn lesen: "Eigensinn heißt die Gesinnung, welche zur hartnäckigen Verfolgung eines Grundsatzes oder eines Entschlusses ohne Achtung auf Gegengründe oder Hemmnisse oder den mangelnden Wert des Erstrebten antreibt. Der Eigensinn ist eine Übertreibung der Willensstärke, die dadurch zustande kommt, daß der Mensch sich wider bessere Einsicht an eine einmal gefaßte Idee oder Absicht anklammert, nur um nicht schwach zu erscheinen. Dadurch wird der Eigensinn zur Schwäche. Denn der Mensch befreit sich durch Starrheit von der Aufgabe, zu prüfen und zu wählen; der Eigensinn, die Art sich ohne Erwägung zu entschließen und bei dem unmotivierten Beschluß zu beharren (Hoc volo, sic iubeo, sit pro ratione voluntas, Juvenalis Sat. 6, 223), tritt gewöhnlich an den Stellen hervor, wo sich ein Charakter unsicher fühlt." [4] Der solcherart wertende, unscharfe und insgesamt in diesem Kontext missverständliche Begriff "Eigensinn" erklärt gar nichts zum Willen, es stellt sich lediglich die Frage, warum Vossenkuhl sich gehalten sah, ihn völlig unerklärt und gegen die üblichen Gepflogenheiten der philosophierenden Zunft einführen zu müssen.

Weiter geht es mit der Erörterung dessen, was Vossenkuhl für die Bedingungen willentlichen Handelns hält. Er glaubt nämlich, "es gehört dreierlei dazu. Es geht darum, wie man etwas will, das ist das Erste, dann was man will, von alledem, was sich anbietet, und drittens, und das ist eine ganz wichtige Bedingung, ob man das kann, was man will. Diese dritte Bedingung, ob man kann, was man will, die sollten wir uns eigentlich im täglichen Leben ein bisschen genauer anschauen, denn häufig wollen wir etwas, was wir gar nicht können und für unsere Überlegungen, ob es freien Willen gibt oder nicht, können wir diese dritte Bedingung gleich mal als ganz scharfe Randbedingung ausklammern, weil wir davon ausgehen müssen, dass wir eben tatsächlich nur das frei wollen, was wir können." Die erste dieser "Bedingungen" ist schlicht Mumpitz, dazu später mehr, die zweite ist eine oberflächlich formulierte Binsenweisheit und die dritte vermischt zwei Ebenen oder auch Kategorien menschlichen Handelns, die so nicht zusammengehören. Das ahnend schließt Vossenkuhl sie gleich nach der Formulierung wieder aus, bleibt aber für den Rest seines Vortrages erst implizit und später explizit in ihr hängen. Das aus erfahrungs- und befähigungsprägenden Vorgängen wie Lernen, Trainieren und Konditionierung resultierende Können im Sinne einer Befähigung zu einer Tätigkeit geht menschlichem Handeln voraus und ist für den Willen gesetzt.

Immanuel Kant sah das folgendermaßen: "Reiner Wille ist ein solcher, der nicht sinnlich-empirisch, sondern 'ohne alle empirische Bewegungsgründe, völlig aus Principien a priori' bestimmt wird (Grundleg. zur Met. d. Sitt., Vorr. S. 17). Der Wille 'ist nichts anderes als praktische Vernunft'. Der vernünftige Wille ist 'ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft unabhängig von der Neigung als praktisch notwendig erkennt'" [5] Im Grunde genommen hat Vossenkuhl lediglich den Kant auf das denkbar trivialste Niveau heruntergebrochen, dabei allerdings die Kausalitäten ein wenig verdreht. Um das zu verdeutlichen, gibt er sofort im Anschluss ein Beispiel, was er mit seiner Aussage meint: "Wenn wir also zum Beispiel den innigen Wunsch haben, zum Mond zu fliegen und es gibt keine Rakete und niemand, der uns dabei hilft, dann ist dieser Wunsch sicher kein gutes Beispiel für den freien Willen." Was daran liegt, dass sich in einem Wunsch niemals ein Wille manifestiert. Das allerdings scheint Vossenkuhl partout nicht aufgehen zu wollen.

Deshalb geht es nun frei flottierend weiter mit der Einführung einer Figur namens Oskar, der "mit einem sehr guten Job, aber der kleinen Schwäche" versehen ist, "nicht gerne aufzustehen". So eines Morgens auch wieder und Oskar steht einer roten Ampel. "Oskar fasst sich ein Herz und rennt über die Straße, obwohl auf der anderen Seite ein Wachtmeister steht. Oskar hat den freien Willen gehabt, entweder stehen zu bleiben oder zu gehen. Man nennt das Wahlfreiheit, etwas tun und lassen zu können. Entweder man geht über die Straße oder man bleibt stehen, so wie das die Straßenverkehrsordnung eigentlich vorschreibt. Oskar mit seinem Gedanken an den Chef, der eines nicht verknusen kann, nämlich zu spät kommen, ist eben losgerannt. [...] Die Wahlfreiheit ist also eine ganz gute Kandidatin für das, was man unter dem freien Willen verstehen kann." Das ist grundfalsch, es ist eben keine Wahlfreiheit, was Vossenkuhl hier beschreibt. Oskar folgte beim Überqueren der Kreuzung nur seiner Konditionierung, pünktlich sein zu müssen, er folgte seinem Bedürfnis, es seinem Chef recht zu machen, was wiederum dem Bedürfnis entspringt, seinen gut dotierten Job zu behalten, das aus dem Zwang, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu müssen, und dem Bedürfnis oder gar der Gier, über den reinen Lebensunterhalt hinaus konsumieren zu können, resultiert. Wir sehen also, dass Oskars Gang über die Straße unter Missachtung der roten Ampel keine Manifestation seines Willens und im Grunde nicht einmal eine bloße Entscheidung war, sondern das spontane Ergebnis einer Kaskade aus Konditionierungen, Bedürfnissen und vermeintlichen Sachzwängen. Es ist vielmehr so, dass Oskar, hätte er als soziales Wesen und im Sinne des kategorischen Imperativs gehandelt [6], keine Option hatte außer der, an der roten Ampel stehen zu bleiben. Somit hatte er auch keine wirkliche Wahlmöglichkeit, in der sich ein Willensakt hätte äußern können. Oskar hat asozial, unvernünftig und getrieben von seinen Begierden gehandelt.

Um etwaige Missverständnisse zu vermeiden - es geht hier nicht um eine - wie auch immer geartete - Moral. Natürlich kann Oskar bei Rot die Straße überqueren und auch ich tue das hin und wieder zu Fuß oder mit meinem Fahrrad. Aber ich bin nicht so dämlich, mir einzubilden oder gar zu postulieren, ich täte damit meinen Willen. Ich bin mir bewusst, dass ich, wenn ich das tue, meiner Gier nach Zeitgewinn oder meinem Wunsch nach Anerkennung als pünktlich zu Terminen erscheinender Mensch folge. Ich weiß, dass ich in diesem Moment nicht meinem Willen folge und ich weiß, dass ich, sollte ich dabei überfahren werden, nicht das Opfer des mich überfahrenden Autofahrers oder des Straßenverkehrs als solchem bin, sondern das meiner Gier und Wünsche.

Dazu ein anderes, nicht konstruiertes Beispiel - wenn ich mehrmals täglich beobachten kann, wie diverse Schwachköpfe sozusagen verkehrt herum in die gesperrte Richtung der Einbahnstraße vor meinem Haus einbiegen, ist das eben keine Willensentscheidung, sondern sie folgen ohne eine Spur von Vernunft im oben zitierten Kantschen Sinne ihrer Gier nach einem vermeintlich schnelleren Erreichen ihres Ziels. Es ist vielmehr sogar so, dass ihre Gier sie ihres Willens und damit der Möglichkeit einer Willensentscheidung beraubt. Kurios an deren Verhalten ist, dass der größere Teil nach wenigen Augenblicken rückwärts fahrend zurück kommt, weil ihnen ein anderes, in die richtige Richtung fahrendes Fahrzeug begegnete und sie zwang, den Rückwärtsgang einzulegen, wobei sie beim Ausbiegen aus der Einbahnstraße auch noch das Stoppschild überfahren, womit sie innerhalb von ein oder zwei Minuten drei Verkehrsdelikte hinlegten. Dessen nicht genug, ich habe es in den Jahren, in denen ich in der Wohnung lebe, schon mehrmals erlebt, dass beim Ausbiegen des Falschfahrers ein anderes, in der Hauptstraße fahrendes Fahrzeug auf diesen auffuhr, womit wir ein sehr anschauliches Beispiel für Crowleys Metapher nach Liber Legis I/03 vom Kollidieren der Sternenbahnen haben, wenn einer der Sterne oder beide nicht ihrem Willen folgen. [7]

Doch Vossenkuhl setzt auf diesen Unfug noch einen drauf und erzählt "Oskar ist zufällig jemand, der gerne mal ein Bier trinkt. Nun sitzt er einmal die Woche mit seinen Freunden zusammen und diese Freunde teilen gerne den einen oder anderen Tropfen in einer hübschen, kleinen Bar. Oskar schaut auf die Uhr, stellt fest, es ist schon Elf. Noch ein Bier? Auch hier haben wir wieder die typische Wahlfreiheitssituation, er kann noch eins trinken, er kann aber auch nach Haus. [...] Und das zeigt, dass dieses Wie mit einem ganz großen Fragezeichen versehen ist, dieses Wie des Wollens. Wir lassen uns unter Druck setzen, wir setzen uns selbst unter Druck. Wer will schon gerne gerüffelt werden? Wer will schon gerne Nachteile in Kauf nehmen?" Es ist unglaublich, aber Vossenkuhl hält es wirklich für angebracht, aus den Trinkgewohnheiten eines offensichtlichen Alkoholikers - zumindest nach medizinischen Kriterien ist sein Oskar dieser Beschreibung zufolge ein solcher - eine vermeintliche Wahlfreiheitssituation zu konstruieren, in der ein betrunkener Idiot sich nicht entscheiden kann, ob sich weiter abfüllt oder nicht. Ich weiß es nicht, vielleicht sieht ja die Welt aus der Perspektive eines bajuwarischen Konkordatslehrstuhls tatsächlich so aus. [8] Tatsache ist aber, und da wird jeder Mediziner sicher zustimmen, dass schon geringe Mengen Alkohol im Blut die Entscheidungsfreiheit und mithin die Wahlfreiheit in Hinsicht auf den Willen außer Kraft setzen.

In dieser Situation verhält es sich mit dem Willen folgendermaßen: Die Entscheidung, die Bar aufzusuchen oder nicht, ist eine Willensentscheidung, sofern man sich darüber im Klaren ist, ob sie wirklich kontingent ist oder ob man nur einer Konditionierung folgt, die sich in der vermeintlichen Verpflichtung äußert, soziale Kontakt in einem solchen Ambiente pflegen zu müssen. Wenn man sich entscheidet, die Bar aufzusuchen, hat man mit der Entscheidung, die erste Dosis Alkohol - in welcher Form auch immer - zu konsumieren, die nächste Willensentscheidung. Auch hier sollte man sich bewusst machen, ob man wirklich kontingent aus den Optionen entscheidet oder ob man lediglich einem sozialen Gepräge folgt, das sich als Gruppenzwang äußert. Wenn man sich aber entscheidet, Alkohol zu konsumieren, begibt man sich von diesem Moment an bis zur völligen Ausnüchterung jeder Willensfreiheit. Das ist zwar hart formuliert, aber zugleich nur konsequent gedacht. Auch hier geht es nicht um moralische Erwägungen. Natürlich kann man sich für den Alkoholkonsum entscheiden. Ich tue das zwar grundsätzlich nie, aber die Willensentscheidung, das zu tun oder nicht, steht jedem frei. Allerdings sollte man nicht so dämlich sein sich einzubilden, dass jede weitere Entscheidung für das nächste Getränk eine Willensentscheidung sei. Alles, was im weiteren Verlauf folgt, ist entweder als nächstes Getränk der Gier oder mit dem Nachhausegehen der Konditionierung geschuldet.

Es geht an dieser Stelle nicht, wie Vossenkuhl behauptet, um ein etwaiges Wie des Wollens, denn es gibt in dieser Situation schlicht keine Willensmanifestation und damit kein Wollen. Auch Vossenkuhls weitere Erwägungen "Wir lassen uns unter Druck setzen, wir setzen uns selbst unter Druck. Wer will schon gerne gerüffelt werden? Wer will schon gerne Nachteile in Kauf nehmen?" lassen keine Willensentscheidung zu, sondern sind Ausdruck konditionierter oder aber Begierden geschuldeter Handlungen.

In ähnlicher Weise unsinnig sind Vossenkuhls Beispiele einer Malerin, die "ein Bild malt, das weder sie noch ich malen können" als Ausdruck einer "unbeeinflusste Art, etwas ganz allein herzustellen" und seine Behauptung, das träfe "natürlich auch auf den guten Fußballer zu, der in einer Situation, in der weder sie noch ich mit dem Ball etwas anfangen könnten, ein Tor schießt" Zwar ist es richtig, dass weder Vossenkuhl noch ich ein halbwegs ansehnliches Bild malen können, doch diese Malerin hat ihr Bild mitnichten ganz allein hergestellt, weil Farben, Pinsel und Leinwand aus der Hand anderer Menschen stammen und ohne diese die Malerin mit ihren Fingern zwar noch gut in der Nase bohren, aber eben kein Bild von der hier unterstellten Qualität malen könnte. Die Malerei geht auch nicht auf unbeeinflusste Art vonstatten, denn das, was die Malerin auf der Leinwand abbildet, entstammt ihrer Wahrnehmung der Lebenswelt, was auch für abstrakte Kunst gilt. Was den Fußballer angeht - das ist eine Situation trainierten und konditionierten Agierens, die zwar in der Tat einzigartige Ergebnisse zeitigt, die aber Willensentscheidungen weder erfordert noch zulässt. Davon abgesehen reicht eine gut sitzende Grätsche eines gegnerischen Spielers aus, um dieser vermeintlichen "Willensfreiheit" eine Ende zu setzen.

Der Rest der Ausführungen des Professors ist keine Erörterung wert, bemerkenswert ist allenfalls noch dies: "Für die Freiheit des Willens wollen wir aber doch mehr. Seit langem meinen die Philosophen und Philosophinnen, dass die Freiheit des Willens davon abhängt, ob wir selbst aus eigener Kraft etwas zuwege bringen." Das meint vielleicht der Professor Vossenkuhl, die allermeisten Philosophen und Philosophinnen sehen das deutlich differenzierter. Einen sehr guten Überblick bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts kann man bei Rudolf Eisler nachlesen. [9] Aber vielleicht hat Vossenkuhl auch nur ein Stück nicht durchdachten Duns Scotus im Kopf : nihil aliud a voluntate est causa totalis volitionis in voluntate - Nichts als der Wille ist die Gesamtursache des Wollens.

Fußnoten:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=UAzPGYMPsd0 oder hier https://www.veoh.com/watch/v14957629bxnCrDcp
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Vossenkuhl
[3] https://www.philosophie.uni-muenchen.de/lehreinheiten/philosophie_1/personen/vossenkuhl/index.html
[4] Kirchner, Friedrich; Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907.
[5] Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe; Berlin 1904; S. 6517
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorischer_Imperativ
[7] "Jeder Mann und jede Frau ist ein Stern"; Liber L. vel Legis, Vers I/03
[8] https://de.wikipedia.org/wiki/Konkordatslehrstuhl
[9] Kirchner, Friedrich; Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907. Siehe auch: https://www.textlog.de/5436.html

[geschrieben 08/2011, Links geprüft 16.06.2019]

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