PEGIDA - Panische Eliten gegen irritierte Dresdner Abendspaziergänger

Es ist viel berichtet, erzählt, fabuliert und halluziniert worden über das Phänomen, dass seit einigen Wochen als PEGIDA und deren Ableger die Nation umtreibt. Deshalb will ich an dieser Stelle nicht den gefühlt achttausendneunhundertzweiundvierzigsten Kommantar zu Sinn resp. Unsinn dieses Phänomens vorlegen, sondern - so kurz und knapp mir das möglich ist - auf einige Aspekte hinweisen, die in der Berichterstattung sonst eher untergehen.

1.) Es ist zwar wohlfeil, aber unsinnig, auf die Schafe einzuprügeln, wenn die Schäfer mal wieder versagt haben. Was wir mit PEGIDA erleben, ist die Widerspiegelung des Versagens der politischen Eliten, und zwar nicht seit gestern oder vorgestern, sondern - zumindest in der Migrations- und Asylpolitik - seit ungefähr fünfunddreißig Jahren. Zu bedenken ist, dass eine Widerspiegelung seitenverkehrt und in aller Regel verzerrt ist - wer sich ausschließlich über diesen Effekt mokiert, und darauf beschränkt sich der größere Teil der massenmedialen Kommentierung, ist einfach nur dämlich.

Zur Einleitung sei mir eine kleine Geschichte gestattet, um das Problem zu illustrieren. Als ich im Spätsommer 1984 über die Zonengrenze nach West-Berlin kam und mit meinen Laufzettel, den ich mir im Notaufnahmelager Marienfelde abgeholt hatte, bei den diversen Behörden und Ämtern vorstellig wurde, kam ich auch ins Arbeitsamt. Die hatten sofort einen Job für mich, und zwar als Gießer in der Preussag-Fusor Druckgießerei in Lichtenrade. Ich war verblüfft, hatte doch Karl-Eduard von Schnitzler allwöchentlich vom Elend der Arbeitslosigkeit in der imperialistischen BRD berichtet und ich hatte mich eigentlich auf einige Monate bezahlten Nichtstuns zwecks Ersterkundung meiner neuen Heimat eingerichtet. Als ich dann wenig später an einem Montagmorgen meinen neuen Job antrat, war ich noch verblüffter - ich war der einzige Deutsche im gesamten produktiven Bereich, buchstäblich alle anderen Arbeiter waren Türken, in der Gießerei die Männer und in der Putzhalle an den Entgratungs- und Putzmaschinen ihre Frauen und Töchter. Erst in der Verwaltung bei der Abgabe meiner Steuerkarte traf ich auf deutsche Mitarbeiter. Meine türkischen Kollegen waren genauso erstaunt wie ich, den noch hatte sich, wie ich später erfuhr, ein Deutscher in die Gießerei verirrt, um dort zu arbeiten. Die Lektion war für mich als Neu-Westberliner bzw. Neu-Bundesbürger sehr interessant, von den älteren Kollegen sprachen die meisten so gut wie kein Wort Deutsch, so auch mein Kollege am Schmelzofen, was das Einarbeiten etwas umständlich gestaltete. Die Erkenntnisse aus der Lektion waren folgende: 1.) Keiner der verantwortlichen Politiker konnte den Begriff Integration auch nur fehlerfrei buchstabieren, es gab schlicht kein Interesse daran, vermutlich war sie nicht einmal erwünscht. Die türkischen Frauen und Männer sollten die Jobs machen, die Deutsche offenkundig nicht wollten, und das verdiente Geld zügig wieder ausgeben, schon damals vorzugsweise für überdimensionierte Autos - nicht mehr und nicht weniger. 2.) Diese Arbeitsplätze wurden damals von Generation zu Generation weitergegeben, kündigte ein türkischer Mitarbeiter, weil er einen besser bezahlten Job fand, oder ging er in Rente, war es nicht unüblich, dass Söhne und Neffen die Arbeitsplätze übernahmen, man ging gemeinsam ins Personalbüro und machte die Sache klar. 3.) Die türkischen Frauen und Männer wurden nur bedingt als Mitbürger gesehen, die ihnen seinerzeit per Stempel im Pass zugewiesenen Wohnbezirke befanden sich in ziemlich heruntergekommenen Mauerrandgebieten in Kreuzberg SO 36, in Neukölln 44 und im Wedding. 4.) Religion spielte damals im alltäglichen Umgang absolut keine Rolle. Kein Arbeiter richtete zu Dhuhur seinen Teppich gen Mekka aus und kniete zum Gebet nieder. Es kam auch keiner auf die Idee, von der Betriebsleitung einen Raum dafür einzufordern. 5.) Die türkischen Gastarbeiter, wie man sie damals nannte, und ihre Familien waren auf eigentümliche Weise integriert und zugleich nicht. Die Integration ergab sich aus einem gelebten Pragmatismus seitens der Türken und einer gewissen Ignoranz seitens der Deutschen, die Nicht-Integration aus teils scharf abgegrenzten Wohngebieten und einem Verharren in den traditionellen Kulturgewohnheiten, was dennoch ein alles in allem recht entspanntes Nebeneinander und hin und wieder Miteinander ergab.

Der Mauerfall setzte dem Quasi-Idyll schlagartig ein Ende, mit dem Abbau der West-Berliner Werkbänke durch die in der Regel in Westdeutschland angesiedelten Mutterbetriebe, mit dem zweistufigen Wegfall der Berlinzulage [1] und dem Einfall der Bonner Politbürokratie war Schluss mit lustig. Das fein ausbalancierte Laissez-faire des West-Berliner Lebens im Schatten der Mauer, das die Lokalpolitiker allenfalls verpflichtete, hin und wieder den Grüßaugust am Brandenburger Tor zu geben und ihnen ansonsten genug Zeit ließ, die Besitzstände ihrer Klientel zu wahren und nebenher ihre Schäflein ins Trockene zu bringen, in dem praktisch jeder Geschäftsmann Steuervermeidung als freundliche Geste für das Finanzamt zur Arbeitslastminderung ansah und das für jeden Freak ein warmes und irgendwie auch auskömmliches Plätzchen hatte, war de facto über Nacht verschwunden - und plötzlich gab es ein Integrationsproblem, das durch den Zuzug aus Osteuropa nach der Öffnung der Grenzen nicht kleiner wurde. Nachdem die Arbeitsplätze wegfielen, an denen die Gastarbeiter gastarbeiten konnten, wurden aus ihnen plötzlich Ausländer und später Migranten und ihre in Deutschland geborenen Kinder verloren nicht nur ihre Berufsperspektive, die bis dahin quasi selbstverständlich war, sondern müssen seither mit einem "Migrationshintergrund" leben. Schlagartig wurde klar, dass buchstäblich nichts an der Zuwanderung auch nur einigermaßen vernünftig durchdacht oder geplant war - nur sagen wollte das keiner. Es gab Größeres zu tun, Berlin musste wieder Reichshauptstadt mit allem dafür erforderlichen Brimborium werden und die brauchte natürlich einen Hauptstadtflughafen, der bald ein skurriles Eigenleben entwickelte. Zeugnisse der DDR-Geschichte mussten geschleift und Republikpaläste abgerissen werden und nicht zuletzt galt es, das Fell des erlegten Bären zu verteilen. Langfristig betrachtet schlug sich das in den Ergebnissen der Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland" aus dem Jahr 2012 nieder [2], die das Bundesministerium des Inneren in Auftrag gegeben hatte und die für reichlich Aufregung sorgte. [3]

Erinnert sich noch jemand an das absolut schäbige Verhalten der Bundesregierung nach dem 03.10.1990 gegenüber den ca. 59.000 vietnamesischen und 15.000 mosambikanischen DDR-Vertragsarbeitern? Ich erinnere mich gut daran, es war beschämend und einer, der es heute für geboten hält, PEGIDA-Anhänger zu verhöhnen [4], war als Innenminister im Kabinett Kohl III maßgeblich an den unwürdigen Vorgängen beteiligt - Wolfgang Schäuble. Die Quittung, die ausschließlich zu Lasten der ausländischen Mitbürger ging, folgte auf dem Fuße - zwischen dem 17. und 23.09.1991 Ausschreitungen in Hoyerswerda, zwischen dem 22. und 26.08.1992 Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter, der Brandanschlag von Mölln in der Nacht auf den 23.11.1992 auf zwei, von türkischen Familien bewohnte Häuser, der drei Todesopfer forderte und der Brandanschlag von Solingen am 29.05.1993 in Solingen, dem fünf Menschen zum Opfer fielen. Die Reaktion seitens der Politik war so panisch wie kurzsichtig. Hektisch wurden Integrationsprojekte und Programme gegen Rechtsradikalismus aufgelegt.

In den folgenden Jahren kletterte die Arbeitslosigkeit kontinuierlich nach oben, nachdem der kleine Sonderboom in Westdeutschland vorbei war, schoss sie bis 2006 regelrecht in die Höhe, in diesem Jahr gab es bundesweit nach offizieller Statistik 5.392.166 ALG-II-Empfänger, im Volksmund Hartz4-Empfänger. [5] Die daraus entstandenen "Sachzwänge" hatten zur Folge, dass die Integrationsprojekte radikal zusammengestrichen wurden, SozialarbeiterInnen wurden entlassen und fanden sich nicht selten als Ein-Euro-Jobber an ihrem alten Arbeitsplatz wieder und sinnvolle Projekte wie das MaDonna in Neukölln mussten um jeden Euro Fördermittel kämpfen. Die Situation hat sich bis heute entspannt, hauptsächlich über den massiven Zuwachs an sogenannten "prekären" Jobs, die zwar seitens der Jobcenter "aufgestockt" werden, deren Inhaber aber nicht in der Arbeitslosenstatistik erscheinen. [6]
Tatsache ist auch, dass die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung nur bedingt lernfähig sind. In der Asyl- und Migrationspolitik zeigt sich das insbesondere daran, dass man in den Neuen Ländern auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die alten Fehler, selbst wenn man sie als solche erkannt hat, wiederholt. Wieder werden Asylsuchende in überfüllte Heime gestopft und wieder gibt es Zuzugsgebiete wie seinerzeit in Berlin Neukölln und Kreuzberg 36, diesmal heißen sie Dresden Johannstadt und Leipzig Eisenbahnstraße. Letztere wurde offiziell zur "Gefahrenzone" erklärt und gilt als "schlimmste Straße Deutschlands" [7]. Das in diesem Abschnitt kurz und grob umrissene Versagen, das zumeist von Ignoranz begleitet wird oder aus solcher resultiert, ist der eine Aspekt, der die Dresdner Abendspaziergänger auf die Beine bringt.

2.) Man sollte sich nicht wundern, dass die Schafe verwirrt über die Wiese stolpern, wenn die Schäfer ohne Ziel und ohne Peilung im Blindflug vorneweg irren. Der zweite Aspekt ist eher globaler Natur und spielt sich im Rahmen eines weltweiten Großexperiments ab, das wir unter dem Namen "Globalisierung" kennen. Am 24.01.2015 gab es in der FAZ einen bemerkenswerten Artikel über das Weltwirtschaftsforum in Davos zu lesen mit dem Titel "Wer soll diese Welt noch verstehen?", das nachfolgende Zitat umreißt das Problem, das ich in diesem Abschnitt ansprechen will.

"Der Eindruck war in vielen Gesprächen und Vorträgen spürbar: Die Welt ändert sich, aber viele sich andeutende Änderungen, die sich häufig eher erahnen als konkret beschreiben lassen, bereiten auch vielen Menschen Sorge, die als Mitglied einer globalen, gut ausgebildeten Elite verstanden werden. Was die Elite [...] ebenso empfindet wie viele andere Menschen, die immer häufiger traditionelle Institutionen wie Staaten, Wirtschaft oder Medien in Frage stellen, ist somit eine zumindest subjektiv immer komplexer werdende Welt. [...] Was bedeutet eine zunehmend divergierende Wirtschaftsentwicklung in der Welt? Manche Teilnehmer [...] nehmen in den Kursbewegungen am Devisenmarkt den Ausdruck eines Währungskriegs wahr, in dem Länder oder Währungsblöcke versuchen, durch Abwertungen ihrer Währungen Wettbewerbsvorteile zu erzielen. [...] Und welchen Reim soll man sich aus dem tiefen Fall des Ölpreises machen, dessen weltwirtschaftliche Folgen schwer begreifbar sind? Sogar Vorstandsvorsitzende großer Ölkonzerne wirkten überrascht. [...] Der erfolgreiche Hedgefondsmanager David Rubenstein [...] wurde nach seiner Einschätzung der Wirtschaftsentwicklung gefragt. [...] Vor einem Jahr habe man ihn schon einmal gefragt, und damals hätte er sich weder die seitherige Aufwertung des Dollar noch den Fall des Ölpreises oder gar eine Deflationsgefahr im Euroraum vorstellen können." [8]

Das Fazit fällt folgendermaßen aus:
"In einer Befragung vor Beginn des Forums hatten viele Teilnehmer politische Unsicherheit als derzeit wichtigstes Thema bezeichnet. Gemeint waren sowohl Konflikte zwischen Staaten wie im Falle Russlands und der Ukraine, aber auch Konflikte innerhalb von Staaten als Folge nachlassender politischer Autorität." [9]

Das könnte ich eigentlich unkommentiert so stehen lassen, wenn sich hier nicht eine Frage aufdrängte: Fällt Ihnen, werter Leser, etwas auf? Die hochdotierten Herren aus den Chefetagen in aller Welt haben die Hosen genauso voll, wie unsere Dresdner und Leipziger Abendspaziergänger. Der Unterschied ist nur, dass die Piloten wissen, dass sie im Blindflug segeln ohne zu wissen, wo oder wie der Flug endet. Die Abendspaziergänger als quasi deren Passagiere ahnen nur, dass in der Pilotenkabine etwas grundlegend schief läuft, ohne es wirklich artikulieren zu können, und sie versuchen sich einen Reim darauf zu machen, woraus schließlich die mitunter seltsamen Plakate und die in der Regel nicht gerade wohldurchdachten Statements resultieren. Der Unterschied zum Rest der Bundesbürger ist vermutlich nur, dass die Abendspaziergänger den Glauben verloren haben, Mutti Merkel würde es schon irgendwie für sie richten, was sicher auch durch die Haltung der Bundesregierung zum und das Agieren im Ukraine-Konflikt beschleunigt wurde..

Zu den Aspekten eher globaler Natur gehört nicht nur die ökonomische Komponente, sondern auch eine politische und dazu gab es am 21.01.2015 einen nicht minder interessanten Artikel im FREITAG zu lesen, Titel "Extremes Europa". Der Artikel beschreibt den Blindflug der politischen Elite und zitiert dazu Philippe Legrain, einen ehemaligen Berater des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso:
"Die Krise hat das Vertrauen der Wähler in die Befähigung und Aufrichtigkeit der etablierten Politiker zerstört. Sie konnten die Krise nicht abwenden und haben bisher auch keinen Ausweg aus ihr gefunden. Sie haben sich um die Rettung von Banken gekümmert und die normalen Leute ins Elend gestürzt." [10]

Der Autor des Artikels schreibt weiter:
"Wenn morgen Wahlen wären, würden jüngsten Umfragen zufolge in einem halben Dutzend EU-Staaten nicht die traditionellen christ- oder sozialdemokratischen Parteien zur stärksten Kraft werden, sondern Neulinge ohne Regierungserfahrung. [...] Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte lange eine Sehnsucht nach Konsens und Stabilität den Kontinent geprägt, vielerorts hatte das Verhältniswahlrecht Koalitionen der Mitte garantiert und Extremisten von der Regierung ferngehalten. Doch dieses System bröckelt nun." [11]

Er lässt Philippe Legrain noch einmal zu Wort kommen:
"Viele Menschen halten es für an der Zeit, ihre Meinungen und Interessen anders auszudrücken. Zunächst in NGOs, in jüngerer Zeit dann in spontanen Kampagnen, die zumeist vom Internet ausgehen: Facebook-Gruppen, Twitter-Kampagnen, Petitionen und so weiter. Die Globalisierung hat dazu beigetragen, dass die Macht der nationalen Regierungen erodiert, sich auf die Märkte und die EU verlagert, Ohnmachtsgefühle verursacht und mancherorts zu einem Erstarken nationalistischer oder regionalistischer Tendenzen führt. [...] Die Empörung der Menschen ist vollauf gerechtfertigt. Leider richten sie ihre Wut aber oft auf Sündenböcke, besonders Einwanderer, anstatt auf Banker, Wirtschaftsbosse und Politiker, die Europa in den Graben gefahren haben." [12]

Doch das muss nach Legrains Sicht der Dinge nicht so bleiben:
"Ein Aufstand ist nicht so weit weg, wie man meinen könnte. Die Regierungen haben offenbar keine Ahnung, was sie machen sollen." [13]

Nicht, dass ich den Abendspaziergängern der GIDAs beim derzeitigen Stand der Dinge revolutionäre Ambitionen unterstellte, vermutlich wird das Phänomen PEGIDA mittelfristig genauso schnell wieder verschwinden, wie es auftauchte. Nichtsdestowenig könnte das der Testlauf für eine neue Form des Bürgerprotests sein. Ich für meinen Teil halte mich mit Abgesängen und etwaigen Prognosen zurück. Interessant ist allerdings, was eine Umfrage der Technischen Universität Dresden ergab. Auf die Frage nach ihren Gründen für die Teilnahme an den PEGIDA-Märschen gaben 15% der Befragten grundlegende Vorbehalte gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern, aber satte 54% Unzufriedenheit mit der Politik und immerhin 20% Kritik an den Medien an. [14] Und weil die Medien nichts unversucht lassen, den Eindruck zu erwecken, im "Tal der Ahnungslosen", wie wir zu DDR-Zeiten die Region wegen der nicht vorhandenen Möglichkeit, Westfernsehen zu empfangen, nannten, lebten die meisten Ausländerfeinde - die sind einer Studie im Auftrag der Bayrischen Landtagsfraktion der Grünen zufolge immer noch und mit weitem Abstand in Bayern zu finden - ebenso, wie die meisten Antisemiten.

3.) Es ist ausgesprochen dumm, die Schafe braun zu lackieren, wenn man ihre Wolle noch nutzen will. Die Reaktion auf PEGIDA und die anderen GIDAs seitens Politik und Medien ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nach meiner Sicht der Dinge nicht sonderlich klug, das ergibt sich aus dem vorherigen Abschnitt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass seit einigen Wochen ein Wettbewerb läuft, die Abendspaziergänger einerseits möglichst lächerlich zu machen und andererseits möglichst weit nach rechts zu rücken. Weil es allerdings selbst für massenmediale Verhältnisse nicht wirklich glaubwürdig ist, eine mehr oder minder große Gruppe irritierter, vom sozialen Status her aber durchschnittlicher Kleinbürger allesamt zu Nazis zu machen, behilft man sich mit der möglichst häufig wiederholten Verwendung diverser Ersatzbegriffe, da alle irgendwie anrüchig und potenziell verdächtig klingen - Verschwörungstheoretiker, Reichsbürger, Islamhasser und eben Ausländerfeinde. Dass dies der Sache nicht im Ansatz gerecht wird und im Übrigen kein Stück bei der Lösung der Probleme weiterhilft - wen juckt's! Freilich sollte man erwarten, dass ein gewisses Eigeninteresse zumindest die politische Klasse zögern lässt, umstandslos auf die Abendspaziergänger einzudreschen, was letztlich nur die Projektion ihrer eigenen Ratlosigkeit in die Protestierer ist. Möglicherweise hält man die nächsten Wahltermine für weit genug entfernt und spekuliert auf das Vergessen.
Möglicherweise jedoch ist diese Art und Weise des Umgangs mit dem Phänomen PEGIDA auch einfach nur ziemlich gerissen, schließlich hat der Hype in den Medien dazu geführt, dass andere Projekte der Polit-Eliten kaum noch wahrgenommen werden, zum Beispiel die TTIP- und TiSA-Verhandlungen.

4.) Ein Mäh ist ein Mäh ist ein Mäh! Im letzten Abschnitt will ich lediglich ergänzend und deshalb kurz auf zwei Aspekte hinweisen. In den seltensten Fällen weisen die Autoren der entsprechenden Artikel auf die Tatsache hin, dass keine amtlichen Statistiken zur Zahl der Muslime in Deutschland existieren, weil es sich bei den islamischen Gemeinden in Deutschland nicht um Körperschaften öffentlichen Rechts handelt. Die immer wieder zitierte Zahl von 4,3 Millionen Muslimen in Deutschland stammt aus der Studie "Muslimisches Leben in Deutschland", die das dem Bundesinnenministerium zugeordnete Bundesamt für Migration und Flüchtlinge anfertigen ließ. [15] Dazu wurde im ersten Halbjahr 2008 in insgesamt 6.004 Haushalten eine Personen ab 16 Jahren telefonisch befragt. Die Daten sind also sechs Jahre alt und aus der Methodik der Haushaltsbefragung ergibt sich, dass die seinerzeit in Deutschland lebenden Asylbewerber ausgeschlossen waren. Inwieweit sie anderweitig berücksichtigt wurden, konnte ich aus Studie nicht erkennen. Davon abgesehen finde ich die Datenbasis recht dürftig, gleichwohl mir die Versicherung der Statistiker, auch aus relativ wenig Daten gar wunderbare Dinge ablesen zu können, durchaus bekannt ist. Die Deutsche Islamkonferenz hingegen schätzte 2012 die Anzahl der Muslime an der Gesamtbevölkerung in Deutschland auf ungefähr 5,6 Millionen Menschen. [16]

Fast schon lustig, aber auch ziemlich albern, sind die Versuche diverser Experten, den Sprachduktus und die Schlagworte der PEGIDA-Spaziergänger zu entschlüsseln. Da wäre zum Beispiel der ohne Frage dumme und durch die mörderische Verwendung im sogenannten "Dritten Reich" nicht mehr guten Gewissens anwendbare Begriff des "Volksverräters". Nichtsdestoweniger ist es schlicht Blödsinn, wenn zum Beispiel eine Frau Dr. Andrea-Eva Ewels, Sprachwissenschaftlerin und Geschäftsführerin der Gesellschaft für deutsche Sprache, im SPIEGEL postuliert: "Der Begriff 'Volksverräter' ist eine Ableitung von 'Volksverrat'. Ein Straftatbestand, der sich erstmals in den Gesetzen des Nazi-Systems findet." [17]

Theresia Enzensberger weiß das in der ZEIT zu bestätigen und legt folgendermaßen nach: "Mehrere Begriffe, die von Pegida-Anhängern, selbst ernannten 'besorgten Bürgern', genutzt werden, so wie 'Lügenpresse', 'Systempresse' und 'Volksverräter' haben ihren Ursprung nachweislich in der NS-Propaganda." [18]

Und wie, verehrte Damen, erklärt sich dann der Umstand, dass Friedrich Engels den Begriff schon in einem Artikel in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 15.02.1849 verwendete? Das ist die früheste, ad hoc aus meinen Bücherregalen belegbare Stelle. [19]

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "Lügenpresse", der fand nachweislich während des Ersten Weltkrieges zur abwertenden Kennzeichnung der britischen Presse Verwendung und war darüber hinaus in der DDR-Propaganda als Bezeichnung für die westdeutsche Presse, insbesondere die aus dem Hause Axel Springer, in Gebrauch.

Last but not least: Falls sich jemand durch die Schafs-Metapher beleidigt fühlt - zu spät, der weltweite Anspruch auf permanentes Beleidigtseindürfen ist schon vergeben. Im Übrigen sind die auf der anderen Seite der Polizeiabsperrung nach meiner Sicht der Dinge auch Schafe. Mitunter haben unsere wackeren Ordnungshüter sogar Schwierigkeiten, das Blöken auseinanderzuhalten. [20]

Anmerkungen & Quellennachweise
[1] Berlinzulage: Steuerfreier Zuschlag von acht Prozent des Bruttogehalts, dabei wurde der Bruttolohn so aufgerundet, dass er durch zehn teilbar war, lief am 31. Dezember 1994 aus.
[2] Bundesministerium des Inneren: Studie veröffentlicht: "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland". BMI. 01.03.2012
[https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/62849] Stand 15.06.2019
[3] Reimann, Anna; Trenkamp, Oliver: Studie zu Muslimen: Stunde der Angstmacher. SPIEGEL ONLLINE. 01.03.2012
[https://www.spiegel.de/politik deutschland/studie-zu-muslimen-stunde-der-angstmacher-a-818559.html] Stand 24.01.2015
[4] nik, rei: Schäuble bezeichnet Pegida als Phänomen der alternden Gesellschaft. SPIEGEL ONLINE. 17.01.2015
[https://www.spiegel.de/politik/deutschland/wolfgang-schaeuble-bezeichnet-pegida...] Stand 24.01.2015
[5] Bundesagentur für Arbeit: Die soziale Situation in Deutschland - Arbeitslosengeld II. Bundeszentrale für politische Bildung. 07/2012
[https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation...] Stand 24.01.2015
[6] Bersheim, Sabrina; Sell, Stefan: Grundsicherung für Arbeitssuchende - Daten, Zahlen und Fakten. Bundeszentrale für politische Bildung.
19.02.2013 [https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/arbeitsmarktpolitik/...] Stand 24.01.2015
[7] Kynast, Julia: Eisenbahnstraße jetzt Gefahrenzone. BILD. 22.08.2014
[https://www.bild.de/regional/leipzig/gefahrengebiet/eisenbahnstrasse...] Stand 24.01.2015
[8] Braunberger, Gerald: Weltwirtschaftsforum in Davos Wer soll diese Welt noch verstehen? FAZ. 24.01.2015
[https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/weltwirtschaftsforum/...] Stand 24.01.2015
[9] ebd.
[10] Traynor, Ian: Extremes Europa. der Freitag. 21.01.2015
[https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/extremes-europa] Stand 24.01.2015
[11] bis [13] ebd.
[14] Vorländer, Prof. Dr. Hans: Wer geht zu PEGIDA und warum? Technische Universität Dresden. 20.01.2015
[https://tu-dresden.de/aktuelles/newsarchiv/2015/1/pegida_pk] Stand 24.01.2015
[15] Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: "Muslimisches Leben in Deutschland" - Vollversion der Studie. BMI. 25.06.2009
[https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/...] Stand 24.01.2015
[16] Diverse Autoren: Islam in Deutschland. Wikipedia, die freie Enzyklopädie. 26.01.2015
[https://de.wikipedia.org/wiki/Islam_in_Deutschland...] Stand 26.01.2015
[17] Skrobala, Jurek: Pegida-Kampfbegriffe: Vokabular wie bei Goebbels. SPIEGEL ONLINE. 12.01.2015
[https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/pegida...] Stand 24.01.2015
[18] Enzensberger, Theresia: Wie spricht das "Volk"? ZEIT. 25.01.2015
[https://www.zeit.de/kultur/2015-01/pegida-rhetorik-analyse] Stand 24.01.2015
[19] Marx,Karl; Engels, Friedrich Werke: Band 6. Dietz-Verlag, Berlin: 1961. S. 270.
[20] aar/dpa: Pegada in Erfurt. SPIEGEL ONLINE. 24.01.2015
[https://www.spiegel.de/politik/deutschland/pegada-demo-in-erfurt...] Stand 24.01.2015

Als Darsteller wirken diese Schafe mit:
[a] Braxmeier & Steinberger GbR: Pixabay.com [http://pixabay.com/de/schafe...]
Lizenz: CC0 Public Domain, freie kommerzielle Nutzung. Stand 24.01.2015
[b] Braxmeier & Steinberger GbR: Pixabay.com [http://pixabay.com/de/schafe-tier-lamm...]
Lizenz: CC0 Public Domain, freie kommerzielle Nutzung. Stand 24.01.2015
Sind sie nicht zum Knuddeln? :-)