200 Jahre Karl Marx

Um den 5. Mai d.J. herum durften oder mussten wir - je nach politischer Einstellung, die heutzutage meist nicht mehr als eine Befindlichkeit und mithin seltener im Kopf, dafür umso öfter im Bauch angesiedelt ist - den 200. Jahrestag der Geburt von Karl Marx, einem der größten oder gefährlichsten - ebenfalls je nach politischer Einstellung - Denker der Neuzeit, feiern oder bedauern - auch dies je nach ... Sie wissen schon.

Entsprechend zahlreich und widersprüchlich waren die Kommentierungen in den Medien sowohl seitens der Follower als auch der Hater, wie man das heute nennt. Ich habe mich durch etliche der Kommentare und Essays gelesen, durch die meisten allerdings eher gequält, denn Marx ist so gesehen ein Phänomen, als dass den wenigsten Kommentatoren ein einigermaßen nüchternes resp. sachliches Urteil von der Hand geht - wie gesagt, entweder Follower oder Hater, dazwischen scheint es nicht viel zu geben. So, wie ihn die einen seligen Blickes verklären, so inbrünstig verreißen die anderen Marx' Werk und Marx als Mensch. Dabei ist es ganz einfach und das lässt sich in zwei Punkten darstellen.

1.) Die Vorstellung, dass ein Mensch, der ein großes Werk hinterließ, auch ein guter Mensch gewesen sein müsste - ganz so, wie unser liebes Herr Jesulein -, ist offensichtlich weit verbreitet, nichtsdestotrotz aber schlicht infantil. Auch die Vorstellung, der Schöpfer eines großen Werkes müsse fürderhin, als kostenlose Dreingabe zum Werk quasi, der Menschheit als Vorbild zur Verfügung stehen, ist ziemlich dämlich. Marx war im Wortsinn asozial, wenn nicht gar ein Soziopath - und damit befand er sich in bester Gesellschaft im Kreis deutscher Geistesgrößen. Er war großspurig und rechthaberisch wie Hegel und Schopenhauer, bemerkenswert ist das Urteil von Carl Schurz, einem Revolutionär von 1848 und späteren Innenminister der USA (1877 bis 1881 unter dem 19. Präsidenten Rutherford B. Hayes). Schurz besuchte Marx, vermutlich Anfang 1852 während seines Londoner Exils, und beschrieb die Begegnung so:
"Was Karl Marx sagte, war in der Tat gehaltreich, logisch und klar. [...] Nie jedoch habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens. Keiner Meinung, die von der seinigen wesentlich abwich, gewährte er die Ehre einer einigermaßen respektvollen Erwägung. Jedem, der ihm widersprach, begegnete er mit kaum verhüllter Missachtung. Jedes missliebige Argument beantwortete er entweder mit beißendem Spott über die bemitleidenswerte Unwissenheit oder mit ehrenrühriger Verdächtigung der Motive dessen, der es vorgebracht."
Marx war ohne fremde Hilfe - konkret der von Engels - absolut lebensunfähig wie Nietzsche, er war eigenbrötlerisch wie Kant und er war ein aggressiver Schmarotzer wie Heine (Man lese Heines Bettelbriefe an seine Verwandten und die mit der nächsten Post nachfolgenden Wuttiraden, sofern sein Ansinnen abschlägig beschieden wurde. [Anm.] Marx bezeichnete einen Onkel, der partout nicht ableben wollte, als "Erbschaftsverhinderer" und konstatierte hoffnungsvoll: "Stirbt der Hund jetzt, bin ich aus der Patsche heraus.")
Darüber hinaus war Marx ein kleinbürgerlicher Spießer wie Stirner oder der ihm später folgende Heidegger. Marx war bis zu seinem letzten Atemzug einfach nicht in der Lage, seinen unehelichen, mit der Haushälterin Helena Demuth gezeugten Sohn Frederick anzuerkennen oder ihm einfach nur Respekt zu erweisen, die Vaterschaft hatte Engels übernommen (und bezahlt) und das Kind wurde bald nach der Geburt zu Pflegeeltern gegeben. Zum Grund merkte Louise Kautsky an, Marx "liebte den Buben nicht, der Skandal wäre zu groß gewesen".

Aber was - im Namen der Weltrevolution - hat Marxens soziopathischer Charakter mit seinen Qualitäten als Ökonom und Philosoph, mit seinem Wirken als einem der letzten Universalgelehrten zu tun? Richtig, absolut nichts. Muss ich nur, weil ich Marx' Werk grandios finde, nun auch eine sozusagen ideelle Freundschaft oder gar Liebesbeziehung halluzinieren? Nein, muss ich nicht, ich habe genug lebende Freunde.

2.) Die Vorstellung, der Schöpfer eines Werkes wäre vollumfänglich für alle historischen Auswirkungen und für jede Inanspruchnahme desselben durch Dritte verantwortlich, ist nicht minder infantil. Die Aufrechnung der Opfer der sich sozialistisch oder kommunistisch nennenden totalitären, quasi-totalitären und diktatorischen Regime gegen Marx' Werk ist zutiefst ahistorisch, unangemessen und führt in der Konsequenz zu schlicht nichts, außer zu einer erneuten Ideologisierung unter anderem Vorzeichen. Das ist im Übrigen genauso dämlich wie die Behauptung, Nietzsche, Wagner und Heidegger wären irgendwie ideell oder gar ursächlich für den Nationalsozialismus verantwortlich. Die beiden Erstgenannten waren längst tot und Bayreuth funktioniert mit den "Eliten" der Bundesrepublik genauso gut und einträglich, wie es das mit denen des so genannten "Dritten Reiches" tat. Heidegger hingegen war ein gnadenloser Opportunist, der seinen jüdischen Lehrer, dem er maßgeblich seine Karriere verdankte (Edmund Husserl), und seine jüdische Geliebte (Hannah Arendt) sofort verriet, als er es für opportun hielt. Dafür war Heidegger verantwortlich.

Auch Marx war längst verblichen, als Lenin und seine Genossen das Werk nominell für sich in Beschlag nahmen, denn erwiesenermaßen hatten weder Lenin noch Stalin signifikante Teile der Werke von Marx und Engels gelesen, lediglich Trotzki tat es wohl, und zwar auch erst, als er aus der Macht entfernt war und somit Zeit und Muße hatte. Die Vermutung, dass Marx das Vorgehen Lenins und Stalins strikt abgelehnt hätte, ist durchaus plausibel und berechtigt, und zwar nicht, weil er Skrupel oder gar Empathie für die Opfer gehabt hätte, sondern weil er weitsichtig genug gewesen wäre zu erkennen, dass diese Politik des "Roten Terrors", wie Lenin sie per Dekret nannte, auf lange Sicht kontraproduktiv, selbstzerstörerisch und damit nach seiner Sicht der Dinge in Sachen Sozialismus resp. Kommunismus de facto konterrevolutionär war, wie die Geschichte schlussendlich zeigte.

Da wurde auch nichts von Marx' Ideen falsch oder schlecht umgesetzt, es wurde nämlich gar nicht versucht, etwas umzusetzen, was jenseits der eigenen Interessen lag. Einerseits hatte Marx keine auch nur halbwegs konkrete Idee vom Sozialismus, geschweige denn Kommunismus außer der von der Notwendigkeit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die hatten etliche andere vor und neben ihm aber auch. Andererseits waren die als selbstdeklarierte Kommunisten agierenden Politiker in erster Linie dies - skrupellose Machtpolitiker und oft auch, wie Stalin, Mao Zedong oder Breschnew - Imperialisten, was der Grund dafür gewesen sein mag, dass Churchill sich so prächtig mit Stalin verstand, bis sich ihre Hegemonialinteressen kreuzten (nachzulesen in Churchills sechsbändigen Opus "The Second World War"), und Nixon mit Mao Zedong.

Was bleibt heute also von Marxens Werk, von einem Werk, das ein offenkundiger Soziopath verfasste und dessen behauptete, bestenfalls ansatzweise versuchte Umsetzung in die politischen Praxis so jämmerlich scheiterte? Es bleibt eine Analyse des Kapitalismus, die in dieser Gründlichkeit und Akribie keiner vor ihm leistete und keiner nach ihm, ohne an seiner Vorarbeit vorbeizukommen (auch wenn gerne das Gegenteil behauptet wird). Marx war hinsichtlich etlicher Aspekte ausgesprochen hell- und weitsichtig, so dass einige seiner Analysen noch heute aktuell sind. Ein schönes Beispiel ist seine immerhin 170 Jahre alte Beschreibung der Mechanismen der Globalisierung (siehe nebenstehendes Textbild). Hätten all die so genannten "Linken" das Kommunistische Manifest gelesen statt in Rudeln mit Che-Guevara-Konterfeis durch die Straßen zu latschen, stünde jetzt keiner von denen dämlich auf Podien oder in Fernsehstudios herum und wunderte sich - "Wer konnte das denn ahnen?" - über die Globalisierung und ihre Folgen - um im nächsten Moment mit demselben dümmlichen Blick aufs iPhone zu starren. Natürlich ohne auch nur im Ansatz imstande zu sein, sich des immanenten Widerspruchs zwischen ihrem Reden und Handeln bewusst zu werden.

Was bleibt, sind sprachlich meisterhafte Werke, zu denen auch etliche von Friedrich Engels zählen, als Zeitzeugnisse, die natürlich im zeithistorischen Kontext zu lesen, zu verstehen und zu interpretieren sind. Was aber nicht selbstverständlich ist, denn gerade Marx' Kritiker lesen ihn kurioserweise mit quasi realsozialistischem Verständnis als vermeintlich unhintergehbare, weil von Marx' Adepten und Apologeten als naturgesetzmäßig behauptete Wahrheiten, was sie natürlich nicht sind. Es gibt keine "zeitlosen" Werke, sollten irgendwelche als solche gelten, sind das entweder Euphemismen oder Resultate von Dogmen, die dieses oder jenes Werk als "zeitlos" deklarieren.

Das bleibt, nicht mehr und nicht weniger - und das ist genug, um Marx als Schöpfer dieses Werkes zu würdigen. Der Rest, das Menschliche und Allzumenschliche, mag mit ihm in Frieden ruhen.

Wer Marx lesen will, kann das hier tun:
Marx-Engels-Werke MEW
Hier eine ziemlich gute, sachlich weitestgehende korrekte und zurückhaltend wertende, aber nicht indifferente Dokumentationsreihe des ZDF über Aufstieg und Fall des Kommunismus (Direktlink zur Mediathek):
Aufstieg und Fall des Kommunismus @Mediathekviewweb

Bildbeschreibung oberes Bild:
Am Rand von links im Uhrzeigersinn:

  • Statue im Foyer des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, offensichtlich eine Replika der Moskauer Statue (rechts)
  • Karl-Marx-Monument von Lew Kerbel in Chemnitz (früher Karl-Marx-Stadt) an der Brückenstraße (früher Karl-Marx-Allee), mit 13 Metern Höhe und über 40 Tonnen Gewicht die zweitgrößte Porträtbüste (egal von wem) der Welt
  • Statue in Moskau von Lew Kerbel gegenüber des Bolschoi-Theaters
  • Karl-Marx-Denkmal von Fritz Cremer in Frankfurt (Oder) am Lennépark
  • Marx-Engels-Monument von Elius Friedmann in Petrosawodsk
  • Marx' Grabstätte von Laurence Bradshaw, Highgate Cemetery, London

In der Bildmitte:
Die elfte der "Thesen über Feuerbach" im Foyer des Hauptgebäudes der Humboldt-Universität Berlin
Thesen über Feuerbach

Bildbeschreibung unteres Bild:
Auszug aus dem Manifest der Kommunistischen Partei, Februar/März 1848 in London, MEW Bd. 4, S. 459ff. 493

Anmerkung: Mir ist bewusst, dass der Begriff "Schmarotzer" historisch belastet und durch die Verwendung in ausgrenzender und später eleminatorischer Absicht duch die Nationalsozialisten negativ konnotiert ist. Gleichwohl fiel mir kein anderer, passender Begriff ein, um das zu bezeichnen, was damit an Marxens Verhalten gemeint ist. Ein Begriff wie "Egoist" passt nicht, weil er situationsbedingt auf die meisten Menschen zutrifft und überdies neben der negativen auch eine positive Konnotation hat (Max Stirner, Ayn Rand, Utilitarismus). Marx war ausgesprochen charismatisch, eine trotz der Armut stets gepflegte Erscheinung und konnte ausgesprochen charmant sein, wenn er wollte. Deshalb ist ein wie Begriff "Widerling" ebenso unpassend wie auch der Begriff "Schnorrer", wobei man mit letzterem eher eine traurige, erbarmungswürdige Gestalt assoziiert. Deshalb habe ich - auch wenn ich damit nicht so richtig glücklich bin - auf den Begriff "Schmarotzer" zurückgegriffen.
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