Wenn die Baerbock versucht, ohne Geländer zu denken ...,

... kommt so etwas dabei heraus:

»Für uns bedeutet Denken ohne Geländer: Deutschland hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem wir unsere Bundeswehr stärken wollen. Wir haben seit Jahrzehnten bestehende Grundsätze bei Rüstungsexporten revidiert, sodass Deutschland mittlerweile zu den stärksten militärischen und finanziellen Unterstützern der Ukraine zählt.«

Das gab die feine Frau Baerbock am 2. August 2022 in ihrer Eigenschaft als Bundesministerin des Auswärtigen in einer Rede zu den transatlantischen Beziehungen vor Studentinnen und Studenten der traditionsreichen New School for Social Research in New York zum Besten. Die Metapher vom "Denken ohne Geländer" stammt von Hannah Arendt, auf die sich Annalena die Fabelhafte auch zu Beginn ihrer Rede auch explizit bezieht, weil Arendt von von 1967 bis 1975 an der New School lehrte und in deren Denktradition sich Annalena die Unglaubliche offensichtliche sieht. Wie ihrer Meinung nach auch die Studentinnen und Studenten der New School, was Annalena die Zauberhafte so formuliert:

»Meiner Ansicht nach tun Sie genau das, was Hannah Arendt [...] meinte, als sie vom "Denken ohne Geländer" sprach. Damit beschrieb sie einen Ansatz, bei dem wir mutig genug sind, Vorurteile und vorgefasste Meinungen abzulegen und uns neuen Vorstellungen zu öffnen.«
Originaltext der Rede: https://www.bundesregierung.de/.../rede-der-bundesministerin-des-auswaertigen-annalena-baerbock...

Das ist triviales Geschwurbel, allerdings ist Annalena die Fantastische nicht die Einzige, die Arendts Metapher nicht verstanden hat. So meint eine nicht genannte Autorin oder ein ebenso namenloser Autor der Universität Heidelberg in den "Heidelberger Profilen":

»Kennzeichnend für das Denken Hannah Arendts war, dass sie keiner Schule angehörte, keiner bestimmten Theorie folgte und sich keinen intellektuellen Zwängen beugte – sie selbst bezeichnete das als "Denken ohne Geländer".«

Von der Baerbock war nichts anderes zu erwarten, von den Heidelbergern aber schon, schließlich war Hannah Arendt eine ihrer berühmtesten Studentinnen in der philosophischen Fakultät. Allerdings ist es erstaunlich, dass die Baerbock für das eingangs zitierte Statement nicht mit Eier- und Tomatenwürfen aus dem Auditorium bedacht wurde, dass keine Buh-Rufe und nicht einmal ein missbilligendes Murren protokolliert wurden. Vielleicht aber ist dies angesichts der Diskurskultur, die sich in den letzten Jahren in den USA zumindest in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten etabliert hat, ganz und gar nicht verwunderlich und zeigt nur, dass die New School auch nicht mehr das ist, was sie mal war.

Das fast schon Komische ist, dass Hannah Arendt selbst erklärte, wie ihre Metapher vom "Denken ohne Geländer" zu verstehen ist. Das sollte man wissen, wenn man diese bei allen - und in aller Regel unangebrachten - Gelegenheiten zitiert. Hannah Arendt erwähnte die Metapher zum ersten Mal auf einer Konferenz mit dem Titel "The Work of Hannah Arendt", die vom 24. bis zum 26. November 1972 in Toronto in Kanada unter der Schirmherrschaft des Canada Council und der York University Toronto stattfand. In einem Podiumsgespräch sagte sie dies:

»You said groundless thinking. I have a metaphor, which is not quite that cruel, but which comes very qu- metaphor, which I never published for myself, I call it thinking without banister, that is in German Denken ohne Geländer. That is: as you go up and down the stairs, you can always hold on to the banister, so that you don`t fall down. What we have lost is a banister. That is a way I tell it to myself. That is indeed what I try to do.«

»Sie sagten bodenloses Denken. Ich habe eine Metapher, die nicht ganz so grausam ist, die aber sehr treffend ist, die ich selbst nie veröffentlicht habe, ich nenne sie "thinking without a banister", das heißt auf Deutsch "Denken ohne Geländer". Das heißt: wenn man die Treppe rauf und runter geht, kann man sich immer am Geländer festhalten, damit man nicht herunterfällt. Was wir verloren haben, ist ein Geländer. Das ist ein Weg, wie ich es mir selbst sage. Das ist in der Tat das, was ich zu tun versuche.«

Mit dem Denken ohne Geländer ist also ganz klar und ohne interpretatorische Finessen erkennbar gemeint, dass mit dem Zivilisationsbruch durch den Holocaust das "Geländer" der Philosophen in Gestalt der Tradition der klassischen westlichen Philosophie von Thales von Milet über Augustinus von Hippo und Duns Scotus, über Kant und Hegel bis zu Heidegger abhanden kam. Das ist eine drastische Formulierung, aber eine für jene Generation gezwungenermaßen exilierter Geisteswissenschaftler - zumal für eine deutsche Jüdin - sehr verständliche Reaktion. Nach ihrer (nicht nur, zum Beispiel auch nach Jaspers u.a.) Sicht der Lage und der Dinge war es erforderlich, angesichts des kaum Beschreibbaren und praktisch nicht Fass- und Verstehbaren die Traditionslinien der westlichen, insbesondere europäischen Philosophie neu zu lesen, zu denken und zu bewerten. Arendt formulierte das so:

»Ich war immer der Meinung, dass man so zu denken anfangen müsste, als wenn niemand zuvor gedacht hätte. Und dann beginnen sollte, von den anderen zu lernen.« ("Die anderen" meint die Philosophen des "Geländers".)

Und nun, ziemlich exakt 50 Jahre nach Arendts Ausführungen, stellt die Baerbock sich hin und verkündet:
»Für uns bedeutet Denken ohne Geländer: Deutschland hat ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt, mit dem wir unsere Bundeswehr stärken wollen.«
Und keinen all der akademisch Geweihten in den Feuilletons interessiert es. Was hat die Baerbock implizit getan? (Explizit wird es nicht gewesen sein, dafür fehlen ihr vermutlich die kognitiven Kapazitäten.) Sie hat, weil sie es offenbar als Bekenntnis ihrer Vasallentreue zu den USA für politisch opportun hält, die derzeitigen Ereignisse in der Ukraine de facto mit dem Holocaust gleichgesetzt und den Holocaust relativiert. Und keinen interessiert es.