Умом Россию не понять - Verstehen kann man Russland nicht

Zitate können eine manipulativen Wirkung zeitigen, dessen bin ich mir bewusst und deshalb finde ich die mit den sozialen Medien in Mode gekommenen, in aller Regel unkommentierten Zitatbildchen - natürlich immer ohne Angabe der Quelle (eine bloße Namensnennung ist keine Quellenangabe) - einfach nur fürchterlich. Manipulativ werden Zitate insbesondere dann, wenn sie willkürlich resp. sozusagen taktisch de- und im Rahmen einer "Meinung" rekontextualisiert, mithin instrumentalisiert werden.

Der russische Dichter Aleksander Semjonowitsch Kuschner (*14.09.1936) bedachte dieses Phänomen - bezogen auf das hier erörterte Tjuttschew-Zitat - in seinem Artikel "Randnotizen " in der Nummer 5/1996 der Zeitschrift "Новый Мир" mit dieser leicht spöttischen Anmerkung: "Es ist eine besondere Kunst, ein Zitat eines Dichters zu pflücken, wie eine Feder eines Vogels, und dann damit zu winken." Um das zu vermeiden, bemühe ich mich, sofern ich Zitate verwende, den zu ihnen gehörenden Kontext kurz darzustellen - so auch hier zu dem gerne von mir - zum Beispiel im Banner meine Facebook-Profils - zitierten Gedicht von Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew.

Умом Россию не понять,
Аршином общим не измерить:
У ней особенная стать -
В Россию можно только верить.

Hier der Autograph des Verses: https://bit.ly/2NdMlba
In derselben Versform und deshalb sinngemäß übersetzt lautet das am 28.11./10.12.1866 [1 Hinweis] geschriebene Gedicht:

Verstehen kann man Russland nicht,
und auch nicht messen mit Verstand:
Es hat sein eigenes Gesicht -
nur glauben kann man an das Land.

Das Gedicht stammt von dem russischer Dichter und Diplomaten Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew (*23.11./05.12.1803 †15.07./27.07.1873), der einige Zeit als Diplomat der russischen Gesandtschaft in München in Deutschland lebte, wo er auch Heinrich Heine und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling kennenlernte. Tjuttschew war ein Sprachtalent und machte sich als Übersetzer deutscher Dichter wie Heinrich Heine, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller in die russische Sprache verdient. Die oben zitierte und am häufigsten verwendete Übersetzung stammt wahrscheinlich von Heinrich Noë (*16.07.1835 †26.08.1896), der zahlreiche Gedichte Tjuttschews ins Deutsche übersetzte, sich bin ich mir dessen aber nicht.

Während Tjuttschews Werk sonst eher unbekannt ist, erfreut sich das Gedicht in Russland großer Beliebtheit, weil es in seiner Kürze und Prägnanz hervorragend geeignet ist, das besondere, herausragende oder gar messianische (Stichwort Drittes Rom) Wesen Russlands akzentuiert in wenige Worte zu fassen. Als Präsident Putin am 09.10.2007 den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Kreml empfing, zitierte er Tjuttschews Gedicht - und ersetzte in der vierten Zeile das Wort "можно" (moschna, man kann) durch "нужно" (nuschna, man muss). Putin sagte also "в Россию нужно просто верить" (wörtlich: "Man muss nur an Russland glauben"). Das war natürlich manipulativ, wenn auch auf verständliche und fast anrührende Weise - genützt hat es bekanntermaßen nichts.

Die Interpretationsansätze gehen in ihren Aussagen weit auseinander. [2 Anmerkung] Die bekannteste und in den russischen slawophil-konservativen Kreisen beliebteste Sichtweise folgt den Interpretationen von Berdjajew und Aksakow. Der Religionsphilosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (*06./18.03.1874 †23.03.1948) deutete Tjuttschew so: Um das russische Bewusstsein "von der charakteristischen kosmopolitischen Verleugnung und fremden Sklaverei" zu befreien, ist es notwendig, die offensichtliche Antinomie und Inkonsistenz der russischen Kultur anzuerkennen. [3 Quelle]
Der Schriftsteller Iwan Sergejewitsch Aksakow (*26.09./08.10.1823 †27.01./08.02.1886) legte in seiner Tjuttschew-Biographie die Sichtweise dar, mit welcher der konservative Politiker Tjuttschew die (französische) Revolution betrachtete, nämlich als "eine moralische Tatsache des öffentlichen Gewissens, die die innere Stimmung des menschlichen Geistes und die Verarmung des Glaubens in Westeuropa enthüllt". Die antichristlichen Wurzeln der Revolution ließen Tjuttschew Russland als eine "heilige Arche" zu betrachten, die über dem allgemeinen "enormen Zusammenbruch" entstand. [4 Quelle]
Für die Philosophieprofessorin Olga Dmitrijewna Wolkogonowa (*19.02.1960) ist das Gedicht ein typisches Beispiel für die russische Eigenheit, die Einzigartigkeit der Erfahrungen Russlands und die Unvergleichbarkeit mit den Erfahrungen anderer Völker und Länder zu betonen. Andere Autoren sehen hinter dem Gedicht die Manifestation der Idee eines typisch russischen Irrationalismus stehen. Der Philologe Sergeij Jewgenjewitsch Trunin beschrieb in seinem Text "Трансформация романных жанров в эпоху постмодерна" (2012, "Transformation neuartiger Genres in der postmodernen Ära") Tjuttschews Gedicht als "eine Entschuldigung für den manischen Irrationalismus Russlands". [5 Hinweis]
Eine andere Sichtweise, die ich für sehr plausibel halte, bietet der Philologe Wadim Walerianowitsch Koschinow (*05.07.1930 †25.01.2001). Seiner Meinung nach sprach Tjuttschew nicht über die Irrationalität der Russen, sondern er wollte zum Ausdruck bringen, dass Russland als Idee und Reich nur dank des Glaubens seiner Bewohner existiert. Wenn der Glaube verloren geht, wird das Land selbst schnell zerstört.

Schließlich sei für Freunde der Textanalyse eine solche nachgereicht. Der Form nach ist das Gedicht ein Quatrain (Vierzeiler), eine aus vier Versen bestehende Gedichtform, verfasst als jambischer Tetrameter (Vierheber), wobei die Interpunktion sehr ungewöhnlich ist. Das Gedicht besteht aus drei Teilen, die dem Prinzip These, Antithese und Synthese folgen, konkret als Behauptung, Argument und Schlussfolgerung. Die ersten beiden Zeilen formulieren als These die behauptete Idee einer besonderen Rolle für Russland, die Wiederholung der Negierung "nicht" dient dazu, die Aussage zu stärken. Der zweite Teil (dritte Zeile) ist das Argument in Form einer Erklärung, und im dritten Teil (vierte Zeile) folgte eine Schlussfolgerung als Synthese. Dabei kontrastiert Tjuttschew Geist und Glauben, Missverständnis und Harmonie. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass neben der obigen andere Übersetzungen zu finden sind, zum Beispiel auf diversen Aphorismen- und Zitatesammelseiten, deren Quellen ich allerdings nicht finden konnte und die ich weniger gelungen finde, so zum Beispiel diese beiden.

Verstand wird Russland nie verstehn,
Kein Maßstab sein Geheimnis rauben;
So wie es ist, so laßt es gehn -
An Russland kann man nichts als glauben.

Der kühle, wägende Verstand
Kann Russlands Wesen nicht verstehen;
Denn daß es heilig ist, dies Land,
Das kann allein der Glaube sehen.

[1 Quelle

Fußnoten, Anmerkungen und Quellen

[1] Doppelte Datumsangaben sind dem damals in Russland gebräuchlichen julianischen Kalender geschuldet. Die erste Datumsangabe ist die nach julianischem, die zweite die nach gregorianischem Kalender.

[2] Der Abschnitt zur Erörterung der Interpretationen folgt dem russischen Wikipedia-Artikel "Умом Россию не понять".

[3] Berdjajew, Alexandrowitsch - Das Schicksal Russlands (1917) http://www.lib.ru/HRISTIAN/BERDQEW/rossia.txt

[4] Aksakow, Iwan - Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew http://az.lib.ru/a/aksakow_i_s/text_0050.shtml

[5] Sergeij Jewgenjewitsch Trunin https://www.famous-scientists.ru/11446/