Ска-панк и урбан брасс из Российской Федерации: Группировка Ленинград
Skapunk und Urban Brass aus der Russischen Föderation: Leningrad

Musik ist einerseits Geschmackssache, andererseits eine Frage der Haltung beziehungsweise der Lebenseinstellung. Über Ersteres lässt sich kaum streiten, jedenfalls nicht wirklich zielführend, über Letzteres schon. So gesehen hat die Bewertung von Musik zwei Aspekte - WIE sie gemacht ist und WAS mit ihr gesagt resp. besungen wird. Auch wenn die Beschäftigung mit dem Was irgendwie aus der Mode gekommen ist, war und ist sie mir immer wichtig, und zwar so sehr, dass ich wegen eines inakzeptablen Was bestimmte Interpreten, Bands oder Genres komplett ausschließe.

So war das auch mit Urban Brass (Brasspop), Ska Punk/Skacore und/oder Reggae Fusion, in diesem Genremix gibt es in Deutschland etliche Bands wie zum Beispiel Seeed, Querbeat, Moop Mama und LaBrassBanda - und genau wegen der habe ich das Genre bisher ignoriert, weil das Was mich die potentiellen Qualitäten des Wie gar nicht erst wahrnehmen ließ. Genauer gesagt ist es diese auf schräge Art sehr deutsche, unerträglich bräsige und auf politische Korrektheit gebürstete Wir-sind-die-Guten-Mentalität der Texte, die mich weghören lässt. Diese schräg-deutsche Art ist im Grunde die liberalistische Fortsetzung des Verses "Und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen" (Emanuel Geibel, "Deutschlands Beruf" 1861). Wobei die Bands - verglichen mit der, über die ich nachfolgend schreibe - in der Regel auch musikalisch einfach nur schlecht sind - mit Ausnahme von Seeed, die mit Peter Fox und Frank Dellé zwei exzellente Sänger haben (Demba Nabé ist ja am 31.05.2018 leider verstorben). Ansonsten - alles выпердыши. [1 Notiz]

  Nach oben

Die Band
Die russischen Band Группировка Ленинград (Gruppierung Leningrad) - kurz Ленинград - hingegen ist auf Krawall gebürstet und das trifft - im Gegensatz zu diesem Milch-und-Butterkekse-Geträller der eingangs erwähnten Musikanten - voll und ganz meinen Geschmack. Der Stil von Ленинград ist einerseits ein Mischung aus Urban Brass, Ska Punk und Reggae Fusion, ergänzt um Metal-Elemente, andererseits stark vom russischen Chanson geprägt und dabei so markant, dass Musikkritiker Ленинград eine Genre sui generis zugestehen, das bekommt nicht jeder. Die Band ist außerordentlich erfolgreich, sie kriegt Hallen und Stadien mit 60.000 (Olimpijskij Мoskau) und 80.000 (Zenit-Arena St. Petersburg) Leuten voll, und das seit Jahren. Das hat natürlich Gründe und der erste liegt im Personal der Band. Der Frontmann Sergej Schnurow ist ein echter Charismatiker ...
https://www.instagram.com/shnurovs/
... und ein Multitalent - Komponist, Multi-Instrumentalist, Opernsänger, Fernsehmoderator, Maler, Designer, Schauspieler, Filmmusikkomponist, ziemlich erfolgreicher Geschäftsmann und nicht zuletzt russische Stil-Ikone mit eigener Modelinie. [2 Notiz] Vor seiner musikalischen Karriere schlug er sich als Lastwagenfahrer, Kindergärtner, Glaser, Schmied und Kunstfälscher durch.

Die derzeit vier Sängerinnen der Band sind exzellent, das sind:
Florida Tschanturija - https://www.instagram.com/florida3003/
Anja Solotowa - https://www.instagram.com/anyazolotova/
Marija Olchowa - https://www.instagram.com/maria_olxova/
Wiktoria Kusmina - https://www.instagram.com/victoria___kuzmina/
Sie sind nicht nur Backgroundsängerinnen, sondern singen jede auch Soloparts. Die Begleitmusiker der bis zu zwanzig Leute umfassenden Band (deshalb группировка statt группа, um den personell fluiden Charakter der Band zu betonen) sind durch die Bank nicht minder gut. So hat keine der oben genannten deutschen Bands einen Gitarristen, der diesen Namen verdient, Ленинград schon, und zwar mit Konstantin Limonow und Schnurow gleich zwei.

Hinweis zur Werbung in YouTube-Videos und zum Datenschutz

  Nach oben

Russisches Chanson
Der zweite, sicher wichtigere Aspekt dürfte sein, dass Ленинград - im Gegensatz zu den deutschen Bands mit Ausnahme von Seeed - nicht bloß die US-Vorbilder kopiert, sondern typisch russische Elemente in den Genremix einbringt, was den Stil in der Konsequenz einzigartig macht - sui generis eben. Das sind einerseits, wie das die gesamte russische Pop-, Rock- und Metalszene tut, Elemente russischer Volksmusik, andererseits ist dies das русский шансон, die russische Version des Chansons. Für gewöhnlich denkt der Musikfreund bei der Erwähnung des Chanson-Genres an Sonnenuntergänge am Seine-Ufer mit Rotwein, an Interpreten wie Gilbert Bécaud, Édith Piaf, Charles Aznavour und Mireille Mathieu, die ausgefallen-auffälligsten Vertreter dürften Serge Gainsbourg und Les Rita Mitsouko sein. Das russische Chanson ist eine ganz andere Nummer:
"Anders als das [...] deutsche Chanson hat das russische Chanson wenig mit der Tradition des französischen Lieds zu tun. Einflüsse der angloamerikanisch geprägten Singer-Songwriter-Kultur finden sich ebenfalls nur marginal. Nachhaltig geprägt wurde diese Unterhaltungsmusikform von der [...] Unterwelt- und Lager-Kultur der 1920er und 1930er. [...] Während der Bürgerkriegs- und NEP-Ära verbreitete es sich von der Schwarzmeer-Küste ausgehend in die urbanen Zentren der Sowjetunion. [3 Notiz] Obwohl es ab Mitte der 1930er Jahre stark in den informellen Bereich abgedrängt wurde, genoss es als authentische Ausdrucksform städtischer Volkskultur anhaltende Beliebtheit." [4 Quelle]

Das russische Chanson kokettiert nicht mit dem Status resp. Leben als Underdog und Outlaw, wie die westeuropäischen Varianten das tun, die russischen Chansoniers waren es und hatten in aller Regel eins gemeinsam - sie starben sehr früh. Sie hatten keine Auftritte im Moulin Rouge oder im Olympia, sondern in Wohnzimmern oder in ebenso dreckigen wie kalten und illegalen Kellerclubs. Um sie rissen sich nicht Ariola oder Universal, sondern ihre Konzerte gingen ab Mitte der 1960er bis zum Ende der Sowjetunion als Bootlegs auf Bändern und Kassetten von Hand zu Hand, das zwar millionenfach, aber die Künstler hatten davon schlicht nichts als den Nachruhm - ab Mitte der 1990er wurden erhalten gebliebene Bänder digitalisiert. Der bekannteste dieser Chansoniers ist der am 11.04.1980 mit 41 Jahren verstorbene Arkadij Sewernij. Bezeichnend für die Lage dieser Künstler in der Sowjetunion ist die Tatsache, dass Sewernijs Veranstalter im März 1980 verhaftet und wegen illegalem Unternehmertums zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. [5 Links]
Hin und wieder findet sich die Bezeichnung "Criminal Songs" für das russische Chanson in der Literatur. Das ist dahingehend irreführend, dass es bei der auch in den Liedern besungenen Kriminalität nicht um Bereicherung im heute verstandenen Sinn geht, sondern um das nackte Überleben, sei es in den Wirren der Kriege, sei es in den Hungersnöten während und nach der Kollektivierung der Landwirtschaft, sei es in den Lagern. Diese Lieder sind beispielhaft dafür:

Аркадий Северный - Lieder sowjetischer Gefangener: https://www.youtube.com/watch?v=PUnP4YIvGlc

  Nach oben

Russischer мат als Stilmittel
Ein anderes Beispiel für das russische Chanson ist der am 25.07.1980 im Alter von 42 Jahren ebenfalls früh verstorbene Wladimir Wysozki, allerdings wurden er und seine Kunst von der Sowjetführung in Grenzen akzeptiert und er konnte im staatlichen Verlag Melodija einige Platten veröffentlichen und im Moskauer Taganka-Theater und ihn Filmen als Schauspieler tätig sein, wobei lokale Behörden immer wieder versuchten, ihn nach Kräften zu sabotieren. [6 Links]
Die partielle Toleranz der sowjetischen Behörden für Wysozkis Chanson erklärt sich aus der Tatsache, dass Wysozki - im Gegensatz zu Arkadij Sewernij - weitgehend auf eine Tradition des russischen Chansons verzichtete, nämlich auf die Verwendung des русский мат, des russischen Mat. Der Begriff beschreibt ein "eingeschränktes, aber in der Wortbildung sehr produktives Register der obszönen Lexik der russischen Umgangssprache" (Wikipedia). Zur Herleitung des Begriffes gibt es zwei Deutungen. Die eine, von mir präferierte, leitet Mat von матерный язык (Muttersprache) ab, womit in Anbetracht der Wurzeln des Mat die мать земля, die Sprache der heiligen Mutter Erde, gemeint ist. Die zweite, offensichtlich schon aus der Zeit der Tabuisierung des Mat stammende Ableitung deutet die Herkunft des Begriffes von матерщина (fluchen). Der Wortschatz des Mat geht im Wesentlichen auf vier, semantisch leere Wortwurzeln zurück, aus denen sich durch Präfixe und Suffixe zahllose Substantive, Adjektive und Verben ergeben, deren Kombination in Abhängigkeit von der konkreten Intention und Situation ebenso zahllose Bedeutungsvarianten zeitigen. So kann die Wortwurzel хуй (schuj) ein beliebiges längliches Objekt, ein Mann, eine unangenehme Situation, betrügen, nichts tun, ein ungenießbares Lebensmittel, Penis und ein einfaches Füllwort bedeuten.

Die Herkunft des Mat, den es unter anderen Bezeichnung mehr oder weniger ähnlich in allen slawischen Sprachen gibt, ist sehr alt und hat seine Wurzeln in den mythologische Vorstellungen des slawischen Heidentums. Ursprünglich hatten die Begriffe des Mat symbolischem Charakter und eine rituelle Funktion zum Anrufen heidnischer Gottheiten und fanden als magisch-sakrale Segenssprüche, aber auch Bannflüche Verwendung. Mit der Christianisierung der Rus begann auch die Verfolgung und Tabuisierung der heidnischen Vorstellungswelt und damit auch der sprachlichen Wendungen und Besonderheiten der heidnischen Sprache, aus welcher der Mat hervorging. Heidnische Ausdrücke galten als dämonisch und obszön, was aber nicht zu ihrem Verschwinden, sondern zu ihrer Profanisierung und semantischen Entleerung führte. Im Grunde genommen ist der Mat in seiner jetzigen Form das Resultat von jahrhundertelanger Unterdrückung seiner Verwendung bis in die heutige Zeit.
Die Tabuisierung einerseits und die Beliebtheit andererseits haben bis heute nicht nachgelassen, so stellen nach entsprechenden Anpassungen (05.04.2013 bzw. 05.05.2014) das Mediengesetz und das Strafgesetzbuch die Verwendung von "obszöner Lexik" in den Medien unter Strafe. Sofern Mat-Worte in Bücher, Tonträger und Filme enthalten sind, dürfen diese nur in versiegelter Verpackung mit einem Warnhinweis verbreitet werden. Deshalb finden sich mit schöner Regelmäßigkeit entweder die Sternchen ***** oder der Einschub [цензура] in den unten verlinkten Interviews mit Sergej Schnurow - an diesen Stellen hat er Mat verwendet. Ein putziges Beispiel für die Tabuisierung des Mat in Russland ist die Tatsache, dass Google матерный язык korrekt mit "Muttersprache" übersetzt, Yandex hingegen mit "obszöne Sprache".

Allerdings kommt die Verwendung von Mat in den besten Familien vor, erinnert sei an Sergej Lawrows leisen, aber deutlich vernehmbaren Kommentar "Дебилы, блядь" auf einer Pressekonferenz mit dem saudischen Außenminister am 13.08.2015, womit er vermutlich die Journalisten meinte. Das Mat-Wort ist hier "блядь" und es gibt - abhängig von der konkreten Situation - eine Reihe von Verwendungs- und damit Übersetzungsmöglichkeiten, wie beispielsweise "fi**en" in allen Abwandlungen, "Sch**ße" oder "Nutte". So lässt sich Lawrows Kommentar als "Sch**ß-Idioten" oder auch, was ich - Lawrows Mimik berücksichtigend - für die wahrscheinlichste Intention halte, mit "F***t euch, Idioten" übersetzen. Garantiert unzureichend ist die Übersetzung als "Dummköpfe", wie es im deutschen Wikipedia steht, die russische Wikipediaversion wird da deutlicher und schreibt: "дебилы и добавил одно нецензурное слово" - "Idioten und fügte ein obszönes Wort hinzu".

Sergej Lawrow verliert für einen Moment die Contenance: https://www.youtube.com/watch?v=WdnEx13C904

Aber auch in der Literatur fand und findet Mat Verwendung - und das bei Autoren von literarisch größter Bedeutung wie wie Alexander Puschkin, Sergej Jessenin, Wladimir Majakowski und Alexander Solschenizyn. Deshalb wird in den letzten Jahren nicht nur in Künstlerkreisen, sondern immer wieder auch unter Politikern der Gedanke geäußert, dass es an der Zeit sei, Mat als kulturhistorisch bedeutsamen und vollwertigen Bestandteil der russischen Sprache zu legalisieren. Man wird sehen, wie sich das entwickelt. [7 Quelle]

Damit bin ich wieder bei Ленинград - die Band und insbesondere der Kopf und Frontmann Sergej Schnurow setzen sich von Anfang an bis heute über das Mat-Tabu hinweg und ignorieren etwaige Konsequenzen. Das stößt natürlich nicht immer und überall auf Gegenliebe, insbesondere - logischerweise - bei der orthodoxen Kirche nicht. Es ist gut möglich, dass der Erlass bzw. die dahingehende Änderung der oben angeführten Föderationsgesetze nicht zuletzt auch in Schnurows Erfolg begründet sind. Nichtsdestotrotz verwendet Ленинград weiterhin und möglicherweise nun erst recht die Mat-Sprache, einerseits natürlich als ausdrucksstarkes Stilmittel, anderseits sicher auch aus purer Lust an der Provokation.

  Nach oben

Der стёб als Ausdrucksform
Neben der Mat-Sprache findet sich bei Ленинград eine weitere russische, eigentlich sowjetische Besonderheit - der стёб (Stjob). Das lässt sich als Scherz, Geplänkel oder Spott übersetzen, hat aber, das gilt auch für eine Interpretation als Sarkasmus und Ironie, nur oberflächlich betrachtet mit dem Phänomen Stjob zu tun. Im Stjob manifestiert sich ein solches Maß an Überidentifikation mit den damit bedachten Objekten, Personen oder Ideen, dass - sofern er gelingt - kaum zu erkennen, geschweige denn zu entscheiden ist, ob es sich dabei um aufrichtige Unterstützung oder um eine Persiflage handelt. Der Stjob ist - anders ausgedrückt - "aufrichtig unaufrichtige Aufrichtigkeit". [8 Quelle, zit. nach Meindl] Passendere, aber nicht unbedingt erhellendere Ersatzbegriffe wären wahlweise subversive oder negative Affirmation, affirmative Übercodierung oder Hyperaffirmation. Der letztere Begriff wäre deshalb passend, weil er, wie der russische Anthropologe Alexej Yurchak es beschreibt, die Reaktion auf eine "Hypernormalisierung" ist resp. seinerzeit in der UdSSR war. "Jeder in der Sowjetunion wusste, dass das System versagt, aber niemand konnte sich eine Alternative zum Status Quo vorstellen und Politiker und Bürger haben sich gleichermaßen darauf verständigt, den Anspruch einer funktionierenden Gesellschaft aufrechtzuerhalten [...] und die Fälschung wurde von allen als real akzeptiert." (Yurchak, zit. nach Wikipedia) Nach Yurchak [9 Quelle, zit. nach Meindl] ist der Stjob eine Form mehrdeutiger Bezugnahme auf ideologisierte Rituale und Diskurse. Das funktioniert deshalb, weil jeder ideologische Diskurs das Versprechen an das Subjekt impliziert, ihm das Ordnen der Welt abzunehmen. Die Wirkung des Stjob als absurde Überidentifikation resultiert aus dem Besetzen der Differenz zwischen ideologisiertem Diskurs und der Realität, wenn das obige Versprechen nicht wirklich eingelöst werden kann und er zeigt dabei im besten Fall über die solcherart in Szene gesetzte Dekonstruktion der Identifikationsmuster die Funktionsweise ideologisierter Diskurse auf. [10 Quelle, zit. nach Meindl]

Ein Beispiel - ich "stjobte" in meiner Zeit in dem putzigen, kleinen Land namens DDR hin und wieder, allerdings ohne den Begriff zu kennen und die Methode als solche benennen zu können, also sozusagen aus dem Bauch heraus und aus purem Spaß an der Provokation. So baute ich mich in Aue, wo ich damals lebte (ja, das Aue mit der weltberühmten Fußballmannschaft) an einem Montagmorgen Ende November 1983 gegen 06:00 Uhr auf dem Weg von einer Party nach Hause in einer runden Nische auf der Brücke über dem Zufluss des Schwarzwassers in die Mulde auf und hielt eine spontane Rede an die Werktätigen, die auf ihrem Weg vom nahegelegenen Bahnhof in die Fabriken an mir vorbeiliefen, und das waren viele. Hier war das - hier ein Foto und bei Google-Maps - in der Bildmitte auf der linken Seite der Brücke.
Sehr lautstark und mit der Gestik kommunistischer Agitatoren - Oberkörper leicht nach vorn geneigt und die geballte Faust gen Himmel gereckt - beglückwünschte ich die Werktätigen, dass nun eine neue Woche begann, in der sie mit aller Kraft an der weiteren Perfektionierung unserer sozialistischen Errungenschaften mitwirken dürften und - es schneite leicht - dass wir uns nicht von den imperialistischen Sabotageversuchen an unserem sozialistischen Aufbauwerk hindern ließen, weil wir den Revanchisten in Bonn jede Schneeflocke mit eiserner Faust in ihre verbrecherischen Kriegstreibervisagen zurückschleudern würden. Nach knappen zehn Minuten standen mir zwei ebenso ratlose wie überforderte Volkspolizisten gegenüber, die sich erst einmal mit einer Kontrolle meiner Personalien behalfen, was mich aber nicht daran hinderte, meine flammende Rede für den Sieg des Sozialismus fortzusetzen. Schließlich empfahlen sie mir freundlich, doch nun nach Hause zu gehen, was ich auch tat, ich hatte eh genug.

Hinweis zur Werbung in YouTube-Videos und zum Datenschutz

Heute ist ein Stjob allerdings nicht mehr so leicht in Szene zu setzen. Das liegt hauptsächlich daran, dass es das Phänomen der Hypernormalisierung nicht mehr gibt, jedenfalls nicht wirklich. Das liegt nicht daran, dass Politik und Bürger nun ehrlicher zu sich selbst und zueinander wären oder dass die Gesellschaft tatsächlich wie geschmiert funktionierte. Auch die Differenz zwischen dem in den letzten Jahren zunehmend ideologisierten Diskurs und der Realität existiert weiterhin, nur halt anders, als es im real existierenden Sozialismus der Fall. Sie ist heute weniger materieller, sondern um so mehr ideeller Natur, was allerdings landläufig als nicht so störend empfunden wird und leichter ignoriert werden kann. Eigentlich wäre es wieder Zeit für das Mittel des Stjob angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet die Apologeten des Habermas-Postulats und ihre Zöglinge im Begriff sind, den herrschaftsfreien Diskurs de facto zu erwürgen und durch eine Art betreutes Denken zu ersetzen. [11 Notiz] Das Dumme ist nur, dass der sozusagen klassische Stjob heute nicht mehr so ohne Weiteres funktioniert. Einerseits ist die Ideologisierung des Diskurses sehr viel subtiler - wie auch die Sanktionierung einer etwaigen Verweigerung der Teilnahme an selbigem. Im Realsozialismus war das einfacher, dort erfolgte die Ideologisierung mit dem Holzhammer und es brauchte nur einen etwas schwereren Hammer, um zurückzuschlagen und wenn man Pech hatte, endete das im Zuchthaus, was eine nicht sonderlich subtile Form der Sanktionierung war. (Entsprechend wenige waren bereit, den Hammer zu schwingen.) Andererseits ist der größere Teil der heutigen Gesellschaft mittlerweile das, was man "merkbefreit" nennt, die sind so dämlich, einen Stjob für tatsächliche Affirmation zu halten - und das ganz und gar ohne das Gefühl, dass da etwas nicht stimmen kann. Das immerhin schafften die Genossen seinerzeit, sie wussten nur nicht, wie sie damit umgehen sollten, weil sie nicht in Worte fassen konnten, was konkret da nicht stimmte, oder weil sie keine Handhabe hatten bzw. fanden. Das war ja auch der Zweck der Übung.

Es bedarf heute also anderer Mittel, Stjobs zu inszenieren und Schnurow beherrscht sie meisterhaft. Seine Motivation hat er so erklärt: "Im Allgemeinen ist es näher am Zirkus. Russischer, einzigartiger, wildester Zirkus. [...] Ich bin ein Sänger des Absurden. Nur hier ist es notwendig, die Konnotation zu entfernen, die mit dem Theater und verschiedenen großen Namen verbunden ist. Absurdität nicht als Genre, sondern als Konzept. Trash, Kitsch und Absurdität - genau darin leben wir." [12 Quelle] Dem kann ich nur voll und ganz zustimmen. Schnurow nutzt die Mittel der Technik, seine Stjobs zu generieren und die sozialen Medien, um sie in der Öffentlichkeit zu platzieren. Das tut er hauptsächlich mit den hochprofessionellen Videos zu seinen Liedern, indem er einen ins Absurde gesteigerten Kontrast zwischen der Bildsprache, den Texten und der Musik inszeniert, wobei ein oder zwei Elemente die Hyperaffirmation erzeugen und das dritte oder die anderen mittels absurd überzeichneter, sprachlicher oder visueller Situationsbilder die Dekonstruktion, meist gar Zerstörung der Identifikationsmuster übernehmen. Die Professionalität setzt dem Ganzen noch eins drauf. Hier eine Auswahl der schönsten Lieder als Stjob von Ленинград:

Ленинград - i_$uss https://www.youtube.com/watch?v=S6ygE226h-0
Text: Untertitel anschalten
Ленинград - Сиськи (Titten) https://www.youtube.com/watch?v=sM1LOMZjFJ4
Text: Untertitel anschalten oder https://bit.ly/2KbHRMK
Ленинград - Кольщик (Mat: Tätowierer) https://www.youtube.com/watch?v=McZConOr2Nk
Text: https://bit.ly/2K3s2cp
Warnung: nichts für empfindsame Gemüter! Das ist die editierte, weil in der Videospur umgedrehte und richtig laufende Version. Sie ist trotzdem als наоборот (umgekehrt) ausgewiesen, weil Ленинград das Video in der tatsächlich umgedrehten, rückwärts laufenden Version mit veröffentlichte - weshalb das, weiß ich nicht, wohl aus Jugendschutzgründen oder so. Hier das Original (Anmeldung erforderlich):
Ленинград - Кольщик (Originalversion) https://www.youtube.com/watch?v=ktiONWfSL48
Ленинград - Сумка (Handtasche) https://www.youtube.com/watch?v=h7xDfqSAdh0
Text: https://bit.ly/2GxV6Gy

Weil mit CDs und DVDs eh kein Geld mehr zu verdienen ist, das tut Ленинград mit Konzerten, schaufelt Schnurow die Videos in guter Qualität und breit gestreut ins Netz in alle Plattformen, die Videos abspielen - YouTube natürlich, VK, Instagram und OK. So verteilen sich die Videos, die teils enorme Klickzahlen haben, was nebenher den Vorteil hat, dass das Publikum die Lieder kennt und in Konzerten mitsingen kann. Neben diesen Videos produziert Ленинград satirisch-sarkastische Lieder und Videos, die Grenze ist natürlich fließend. Hier eine Auswahl der schönsten satirischen Lieder von Ленинград, die den russischen Alltag und dessen Besonderheiten zum Thema haben:

Ленинград - ЗОЖ (Gesunder Lebensstil) https://www.youtube.com/watch?v=DgdP5U28jHc
Text: https://bit.ly/2Ork1C5
Ленинград - Кандидат (Kandidat) https://www.youtube.com/watch?v=Q1J5lUKnD4I
Text: Untertitel anschalten
Ленинград - Обезьяна и Орёл (Affe und Adler) https://www.youtube.com/watch?v=BYlm5w_d8Kc
Text: Untertitel anschalten
Ленинград — Молитвенная (Gebet) https://www.youtube.com/watch?v=M_CZTi8L29c
Text: https://bit.ly/32WtfcO

  Nach oben

Leningrad als Politikum
Schnurow liebt die Provokation - und er beherrscht sie meisterhaft. Ein schönes Beispiel ist der Skandal, den er im Juli 2015 inszenierte, als Ленинград am Rande des Gesangswettbewerbs "Новая волна" das Lied "Ленинград - Москва, по ком звонят твои колокола?" (Moskau, für wen läuten deine Glocken?) vor der versammelten Elite der russischen Musik und Politik zu Gehör brachte. [13 Notiz] In dem Lied besingt Schnurow einen Traum, wie Moskau niederbrennt - inklusive Medwedew, Putin, Nawalny, der Band Pussy Riot, der Bolotnaja-Protestierer und einschließlich der Kreml-Fichten und der Christ-Erlöser-Kathedrale. [14 Notiz] Dessen nicht genug schloss sich dem Lied ein Medley mit Persiflagen offizieller patriotischer Moskau-Lieder an. Ausgerechnet 2015, als man den gelungenen Umzug der Veranstaltung aus Lettland (wegen der lettischen Sanktionen nebst Einreiseverbot gegen verschiedene, russische Musiker, weil sie auf der Krim auftraten - "undermining of Ukraine's sovereignty and territorial integrity") nach Sotschi feiern wollte! Es dauerte eine Weile, bis sich das Publikum - darunter Medwedews Ehefrau - von dem Schock erholt hatte, dann aber überwältigte auch sie die unbändige Energie der Band und sie tanzten im Saal und auf den Gängen. Schließlich befand die um ihr Urteil gebetene Veranstalterin und Grande Dame der russischen Populärmusik Alla Pugatschowa noch am selben Abend, die Lieder von Ленинград wären gut und auch die Mat-Sprache wäre - wenn auch Geschmackssache, ihrer wäre es nicht unbedingt - in Ordnung, denn immerhin sei Mat russische Volkssprache. [15 Notiz] Das kam gewissermaßen einem Ritterschlag für Schnurow gleich. Hierzulande hätte ihm das diverse Beleidigungsklagen und eine rictig fette wegen Volksverhetzung beschert.

Ленинград - Москва, по ком звонят твои колокола? https://www.youtube.com/watch?v=kp8PmgPW_AI
Live Neujahrskonzert 2015, mit Alisa Vox https://www.youtube.com/watch?v=IDjEXrVWi8I
Text: https://bit.ly/2GyvAkG

Natürlich sind Ленинград und Sergej Schnurow in Russland auch ein Politikum (das wären sie auch hierzulande), was sich insbesondere in dem Vorwurf äußert, dass Schnurow ungeachtet all des Spotts, der Stjobs und des Sarkasmus, hin und wieder auch Zynismus, womit er die russische Gesellschaft in all ihren Facetten überzieht, und jenseits der teils exzessiven Verwendung des Mat nicht nur Teil des von ihm verhöhnten Establishments, sondern indirekt auch Stütze des Systems geworden ist. Die Frage mussten sich - spätestens, nachdem sie reich und selbst Establishment geworden waren - schon einige vor ihm gefallen lassen, ich denke da an Frank Zappa, Bob Dylan und John Lydon, um nur die bekanntesten zu nennen. Schnurow sieht das eher locker und geht recht salopp über entsprechende Nachfragen hinweg, was natürlich sein gutes Recht ist. So wurde er in einem Interview mit РБК gefragt, ob es für ihn kein Widerspruch sei, ausgerechnet im Gazprom-Sender NTW das Lied "Patriotin" zu singen, in welchem er sich über das Regime und mindestens die Hälfte des NTW-Publikums lustig macht, und das in einem Programm namens "Anatomie des Jahres". [16 Notiz] Schurows Antwort ist für ihn typisch: "Es war sehr cool. Es ist absolut eingebettet in die moderne Absurdität. 'Patriotka' ist ein gutes Lied, es gefällt. Wir können nicht glauben, dass Menschen Idioten sind. [...] Das gleiche, entschuldige die Parallele - Gogols 'Revisor' wurde im kaiserlichen Theater gespielt. Wer war bei der Premiere dabei, was denkst du? Die gleichen Helden. Lachten sie? Natürlich lachten sie." [17 Quelle] Womit er natürlich recht hat, hier das Lied - auch ein echter стёб (in der Differenz zwischen Bildsprache und Text):

Ленинград - Патриотка (Patriotin, offizielles Video) https://www.youtube.com/watch?v=GEWIfS7ZIr8
Text: Untertitel anschalten
Live Neujahrskonzert 2015, mit Alisa Vox https://www.youtube.com/watch?v=yYmpOVeLydQ

In Schnurows Fall ist sein offensichtlich größter Neider zugleich sein schärfster Kritiker, nämlich der russische Musikjournalist und -kritiker Artemij Troizkij, der momentan aus Protest gegen die russische Politik im freiwilligen "Exil" in Tallinn in Estland lebt, aber problemlos in Russland reisen und publizieren kann. Im Mai 2016 äußerte sich Troizkij sehr explizit zu seiner Sicht bezüglich Schnurows Rolle in der russischen Kulturszene und Gesellschaft an und für sich.
"Die Vorteile von Sergej Schnurow sind enorm. Weil Sergej Schnurow der Hauptanästhesist Russlands ist. Das ist die wichtigste kulturelle Lackierung der russischen Realität. Einen solchen Begriff gab es schon in den sechziger Jahren - Realität lackieren. Hier lackiert Sergej Schnurow die russische Realität. In diesem Fall am überzeugendsten, am begabtesten, am ansteckendsten. Dabei singt er die Wahrheit. Er singt nicht 'Putin ist unser Steuermann' oder 'mein Freund Herr Putin'. Nein, er singt die Wahrheit. Er singt über die Tatsache, dass wir ein Leben voller Scheiße und Hoffnungslosigkeit haben. [...] Und dann macht er so eine atemberaubende List. Ja, das Leben ist Scheiße und wir sind Scheiße und ich bin Scheiße und du bist Scheiße, aber wie cool ist das alles und wie viel Spaß haben wir damit. Und es klingt tatsächlich überzeugend. Außerdem klingt es so atemberaubend."

Nach dieser Charakterisierung von Schnurows Arbeit zieht Troizkij folgendes Resümee:
"Ich denke schon, dass kein schlauer Surkow [18 Notiz] mit all seinen mittelmäßigen Politikwissenschaftlern etwas Besseres finden könnte als das, was Sergej Schnurow erfunden hat. Und im Allgemeinen sollte er theoretisch den Titel eines Volkskünstlers tragen. [...] Nun, angesichts seines skandalösen Rufs (Anm. Kupfer: Schnurows Ruf ist gemeint) wird Putin das natürlich niemals tun. [19 Notiz] Aber er erlaubt Schnurow etwas anderes, viel wichtigeres. Er löste seine Zunge und Schnurow konnte alles und jede Sprache singen, die er wollte. Er hat seine Hände losgebunden und Sergej Schnurow hat Geld in unglaublichen Mengen gescheffelt und fühlt sich großartig. Und niemand wird ihn aufhalten, weder die Abgeordneten noch der Generalstaatsanwalt Tschaika. [20 Notiz] Keiner, denn für den Staat wäre es äußerst unrentabel, äußerst kontraproduktiv. [...] Tatsächlich ist das einzige Problem mit Schnurow, dass er ein sehr kluger und äußerst talentierter Typ ist. Und es tut mir einfach sehr leid, dass er, objektiv gesagt, sein bemerkenswertes Talent in den Dienst des Bösen und der Lüge gestellt hat." [21 Quelle]

Denunziationsschreiben des Moskauer Kreativlabors für Rockmusik Soweit Troizkij, allerdings gibt es mit seiner Meinung zu Schnurow ein Problem - sie ist eher denunziatorisch als deskriptiv oder gar erklärend. Nun liest und hört man heutzutage öfter mal als angeblich kritische deklarierte, denunziatorische Darstellungen, das Problem bei Troizkij ist allerdings, dass er sich schon früher als Denunziant hervortat. Er war seinerzeit, Ende der 1980er Jahre, Mitglied in einem sogenannten "Moskauer Kreativlabor für Rockmusik", einer von den Sowjetbehörden geschaffenen Organisation zur Kontrolle und Kanalisierung rockmusikalischer Aktivitäten. Dieses "Kreativlabor" denunzierte in einem dokumentierten Schreiben an die Moskauer Kulturbehörde der KPdSU und drei Zeitungsredaktionen die Aktivitäten der Untergrundzeitschriften, die über den sowjetischen Musikuntergrund positiv berichteten und ihn bei der Jugend populär machten, das betraf insbesondere die sibirischen Untergrundbands. Rechts der Screenshot und unter Fußnote [22 die Quelle], die Übersetzung und weitere Erläuterungen zum Sachverhalt.

Jeder, der sich ein wenig mit den sowjetischen Machtstrukturen auskennt, weiß, dass solche Schreiben am nächsten Tag in der Lubjanka auf dem Schreibtisch eines KGB-Offiziers lagen, und zwar in vier, voneinander unabhängigen Ausfertigungen - von jeder, zum Zwecke der Denunziation angeschrieben Stelle eine. Das konnte fatale Folgen für die Musiker haben und hatte sie auch, es sei nur auf Jegor Letows Zwangseinweisung in eine psychiatrische Anstalt verwiesen, eine damals beliebte Methode des KGB, unbequeme Zeitgenossen verschwinden zu lassen. Dass nun ein Denunziant wie Troizkij ausgerechnet Schnurows angeblichen Konformismus kritisiert, ist einfach nur verlogen. Troizkij sollte sich schämen.

In eine ähnliche, wenn auch nicht so explizit politische Richtung, gehen die Vorwürfe der wegen der "Gnade der späten Geburt" (Helmut Kohl) sowjetisch nicht vorbelasteten Walerija Solodownikowa im Magazin "Ахилла" in einem Text über - ausgerechnet - Rammstein:
"Zum Beispiel mit der Arbeit von Sergej Schnurow, denn jetzt ist er es, der in diesem Jahr in Folge auf dem Höhepunkt des Ruhms steht und seine Clips sind in unserem Land Top. [...] Ich spreche nicht über Form und Stil, sondern über den Inhalt. Irgendwie wirkt unser "Top" [...] unhöflich und primitiv, obwohl Clips für die Gruppe Ленинград von Experten gedreht werden Und ja, ich erkenne das Talent von Sergej Schnurow. Er ist eine sehr interessante und herausragende Person, die perfekt sieht, was der Appetit der Massen ist. Mit seiner Arbeit geht er in den Kern der 'Volksliebe'. Aber leider 'liebt jeder unser Volk', wie Letow [23 Notiz] und derselbe Schnurow, der ihn zitierte, sangen." [24 Quelle]

Ich halte die Kritik für überzogen und ich weiß nicht, inwieweit bei Troizkij Neid (und Enttäuschung, die beiden waren offensichtlich befreundet) in die Meinung hineinspielt. Tatsache ist, dass es nicht Schnurows Job ist, Troizkijs Kämpfe - quasi stellvertretend für alle Oppositionellen - auszufechten. Ich halte das Einfordern von Bekenntnissen grundsätzlich für fatal und tendenziell totalitär, es ist das spätestens dann, wenn die Bekenntnisverweigerung sanktioniert wird, in welcher Form auch immer. Es öffnet überdies der Heuchelei Tür und Tor, ich habe das in meiner Zeit in der DDR erlebt. Natürlich ist Schnurow Teil des Establishments geworden - и хули? Wer bin ich - und wer ist Troizkij in seinem selbstgewählten, kommoden Exil inklusive Reisefreiheit -, das zu monieren?
Schnurow ist kein ideologiekonformer Patriot und sein Erfolg liegt nicht zuletzt in der ironischen, distanzierten und oft auch sarkastischen Haltung gegenüber der russischen Gesellschaft inklusive ihres politischen und wirtschaftlichen Establishments - und er kann über sich selbst lachen. Es ist kein Zufall, dass Schnurow Ende der 1990er bis Anfang der 2000er Jahre sehr schnell populär wurde, nämlich in einer Zeit, als die russische Gesellschaft begann, den Schock des kulturellen Totalausfalls der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu verkraften. Eins von Schnurows gesellschaftlichen Lieblingsthemen ist die Demaskierung des - vorzugsweise männlichen - "Selbstbewusstseins" als von übermäßigem Wodkagenuss beschwingten Größenwahn und nationalen Chauvinismus. Typisch dafür ist das Lied Когда-нибудь (Eines Tages), in der sich eine derbe männliche und eine sanfte weibliche Stimme abwechseln - Auszug (der Text ist wegen des Mat schwer zu übersetzen, deshalb nur zwei Verse, erst der männliche, dann der weibliche):

Wir sind verdammte Kulturträger!
Wir sind ein orthodoxes Land!
Was heulst du Schlampe, du Dummkopf
Gieß mir noch Wein ein!

Eines Tages hast du aufgehört zu trinken,
ich bringe dich zum Arzt.
Ich kann die Vergangenheit nicht vergessen,
ich werde dir trotzdem vergeben.

Ленинград - Когда-нибудь (Eines Tages) https://www.youtube.com/watch?v=rdcfEw5zq_U

Schnurow gelingt es, die Rollen des Popstars, des "Volkssängers" und des kritischen Beobachters und Kommentators der russischen Gesellschaft zu vereinen und er schafft, was nicht vielen gelingt - dass sein Publikum auch über sich selbst lachen kann. Oder wie Schnurow in einem Interview sagte: "Solange wir uns selbst auslachen können, von außen auf die ganze Idiotie dessen schauen, was passiert, befinden wir uns immer noch in einer Art Rahmen der Rationalität." [25 Quelle] Dabei bekam und bekommt Schnurow nichts geschenkt - Versuche von Bürgermeistern, darunter der Sankt Petersburger und der Moskauer, Auftrittsverbote durchzusetzen, Eingaben von Duma-Abgeordneten, die letztlich zu den oben erwähnten Sprachregelungsgesetzen führten, Schikanen der örtlichen Polizei bei Konzerten: "Ja, das ist im Großen und Ganzen ein Kampf. Ich widersetze mich [...] Viele verabschiedete Gesetze, verschiedene Anträge von Abgeordneten. Dies muss die ganze Zeit bedacht werden." [26 Quelle]

Auf einen anderen Aspekt weist Wladislaw Sankin bei RT Deutsch hin, nämlich auf diesen:
"Im Jahr 2015 schaffte es kein einziger russischer Film in die Liste der Top-10 des Filmverleihs, die Kassenschlager sind fast ausschließlich amerikanische Produktionen. In einem Land, das sich auf die Traditionen des weltweit geachteten sowjetischen Kinos besinnen möchte, ist dies eklatant. Vor diesem Hintergrund ist die Popularität der Gruppe "Leningrad" als Musikband und ihres Frontmanns als eines Lebenskünstlers die Notbremse, die die russische Kultur zum Zweck des Selbsterhalts gezogen hat. Diese Popularität ist um die Säule dieser Kultur herum aufgebaut, die russische Sprache mit all ihrer Arten und Unarten." [27 Quelle]

  Nach oben

12.10.2019 - das Ende?
Fazit: Ленинград ist ein musikalisches Großereignis und im Rauschen des heutigen Pop-Gedöns eine echte Bereicherung. Die nächsten Konzerte finden am 03.10.2019 in Düsseldorf in der Mitsubishi Electric Halle und am 05.10.2019 in Berlin im Velodrom statt. Leider sind das die letzten Konzerte in Deutschland, und zwar nicht nur für diese Tour, sondern für die nächsten Jahre. Wie Ende März bekannt wurde, löst Schnurow die Band nach dem letzten Konzert in der Zenit-Arena in St. Petersburg am 12.10.2019 auf. Das hat er 2008 schon einmal getan, sich zwischenzeitlich seinem Metal-/Punk-Projekt Рубль gewidmet und 2010 Ленинград neu erfunden. Jetzt stagniere die Band und deshalb ist erst einmal Schluss - darum финальный концерт in der Ankündigung für die Konzerte in Deutschland. Im Interview schließt er nicht aus, dass er die Gruppe nach einiger Zeit wieder zusammenstellen kann. "Ich sehe, dass etwas radikal anders wird. Die Luft rasselt und es wird etwas Neues kommen, ja." [28 Quelle]

  Nach oben

Velodrom Berlin - Impressionen
Большое спасибо, Флорида и Шнур! Спасибо огромное, Группировка Ленинград!
Leningrad am 5. Oktober 2019 im Velodrom - was für ein grandioses Spektakel! Ich habe ja nun schon viele Konzerte gesehen, aber noch keins, in dem eine Band so unglaublich viel Energie rüberbrachte. Das Publikum, das zu mindestens 90% aus Russinnen und Russen bestand, ist geradezu ekstatisch mitgegangen, wobei mich einmal mehr die Textsicherheit der russischen Crowd erstaunte.

  Nach oben

Fußnoten und Quellen

Hinweise zur Transkription: https://www.mentopia.net/.../umschrift-russisch.jpg
Anleitung zur Übersetzung fremdspachiger Webseiten: https://www.mentopia.net/.../webseiten_uebersetzen.jpg
     1.) Google- bzw. Yandex-Translator aufrufen: https://translate.google.de/ bzw. https://translate.google.de/
     2.) Webadresse (URL) der zu übersetzenden Webseite in das linke Fenster kopieren
     3.) URL der Übersetzung wird rechts angezeigt - anklicken

[1] Выпердыш: Mat -Ausdruck, in etwa "jemand, der aus einem Furz kommt", umschreibt eine Person, die sich wichtiger gibt, als sie tatsächlich ist.

[2] Schnurow ist Inhaber bzw. Teilhaber zweier Edel-Restaurants in Sankt Petersburg.
https://spushkin.com/ - Синий Пушкин
https://kokoko.spb.ru/en/ - Kokoko

[3] NEP: Новая экономическая политика - 1921 von Lenin und Trotzki eingeführtes Konzept der Dezentralisierung und Liberalisierung in Landwirtschaft, Handel und Industrie in der Sowjetunion, 1927 von Stalin kassiert.

[4] Quelle und mehr zum Thema: https://de.wikipedia.org/wiki/Russisches_Chanson

[5] Arkadij Sewernij - Biografie und Liedtexte (nur russisch): http://severnij.org/
Arkadij Sewernij - MP3:
http://severnij.org/

[6] Wladimir Wysozki - Lieder und Gedichte (russisch und englisch):
http://akbarmuhammad.awardspace.co.uk/poems/index.html
Wladimir Wysozki - Liedtexte (russisch und deutsch) und Hörbeispiele:
http://www.wysotsky.com/1031.htm


[8] Meindl, Matthias: Reiner Aktivismus? Politisierung von Literatur und Kunst im postsowjetischen Russland. Böhlau Köln, 2017

[9] Yurchak, Alexei: Everything was Forever, Until it was No More: The Last Soviet Generation. Princeton University Press, 2006.

[10] Arns, Inke; Sasse, Sylvia: Subversive Affirmation. On Mimesis as Strategy of Resistance. In IRWIN (Hrsg.): East Art Map. Contemporary Art and Eastern Europe. Cambridge, MIT Press 2006, S 444 ff.

[11] Der herrschaftsfreie Diskurs setzt nach Habermas ("Theorie des kommunikativen Handelns") folgende Diskursnormen voraus: 1,) prinzipielle Gleichheit der Teilnehmer ("Aktoren"), das heißt gleichberechtigte Kommunikationspartner, 2.) Problematisierbarkeit aller Themen und Meinungen, also gleiche Möglichkeit sich zu äußern, 3.) symmetrische Situation durch Unausgeschlossensein, 4.) Entscheidungen durch den Zwang des besseren Arguments

[12] Interview in Сноб vom 05.09.2016
https://snob.ru/entry/99066/

[13] Новая волна: "Die neue Welle", 2002 erstmals in Jūrmala (Lettland) ausgerichtetes Festival der Populärmusik, das seit 2015 in Sotschi stattfindet.
https://newwavestars.eu/ru/

[14] In dieser Reihenfolge läuteten im Lied die Glocken für: Pussy Riot; Wladimir Putin; die Fichten an der Kreml-Mauer; Dmitri Medwedew: Ministerpräsident der Russländischen Föderation; Alexei Nawalny (bekannter Oppositionspolitiker); alle künftigen und gewesenen Bürgermeister, insbesondere Juri Luschkow (ehemaliger Moskauer Bürgermeister); die Bolotnaja-Bewegung (zeitweise Proteste gegen "Einiges Russland" und angeblicher Wahlfälschungen zu deren Gunsten 2012); OMON (Spezialeinheit der russischen Polizei) und die gesamte Polizei überhaupt; die Christ-Erlöser-Kathedrale und schlussendlich sowohl alle хачи (Immigranten, speziell Arbeitsimmigranten) als auch alle москвичи (Moskowiter, alter Begriff für Bewohner Moskaus).

[15] Alla Pugatschowa (*15.04.1949), russische Estrada-Legende, die sich schon in den 1970er Jahren für eine Liberalisierung der Kunst einsetzte, mehr Individualismus forderte und in ihren Kompositionen als einer der ersten jener Zeit in der Sowjetunion russisches Liedgut mit westlichen Einflüssen, insbesondere Rhythmen, verband.

[16] NTW (НТВ) ist ein russischer Fernsehsender mit Hauptsitz in Moskau mit Gazprom-Media als einzigem Aktionär. "Анатомия года" ist ein Jahresrückblick und entspricht Sendungen wie "Menschen, Bilder, Emotionen"
https://www.ntv.ru/peredacha/Anatomiya_goda/
Hier Schnurows Auftritt auf dieser Veranstaltung "Анатомия года" am 01.01.2015:
https://www.youtube.com/watch?v=ocWa4eNp-P0

[17] Interview mit РБК vom 7. Juli 2015
https://bit.ly/2OkdEQU (URL Shortener nach РБК)

[18] Wladislaw Jurjewitsch Surkow (*21.09.1964), Geschäftsmann und persönlicher Berater des Präsidenten der Russischen Föderation

[19] Hier ist der Ehrentitel Народный артист Российской Федерации (Volkskünstler der Russischen Föderation) gemeint, der vom russischen Staat an Einzelpersonen für besondere Verdienste in einem der Bereiche der Darstellenden Kunst (Musik, Theater, Ballett, Kinematografie u. a.) verliehen wird. Er wurde im Dezember 1995 per Präsidialerlass in Nachfolge des Titels "des Volkskünstlers der UdSSR " eingeführt und gilt als eine der höchsten nationalen zivilen Auszeichnung.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Volkskünstler_Russlands

[20] Juri Jakowlewitsch Tschaika (*21.05.1951), russischer Generalstaatsanwalt

[21] Artemij Troizkij im Interview mit Эхо Москвы (Echo Moskau) in der Sendung Особое мнение (Abweichende Meinung) am 24.05.2016
https://echo.msk.ru/programs/personalno/1770690-echo/

[22] Screenshot/Auszug aus "Töte den Staat in dir." Die erste Biographie der Legende des russischen Rock Jegor Letow
https://www.sibreal.org/a/30171424.html
Übersetzung des Denunziationschreibens an das Московский городской партийный комитет КПСС (Moskauer KPdSU-Stadtkomitee, MGK KPdSU) und drei Zeitungsredaktionen:

»Abteilung Propaganda und Agitation MGK KPdSU
Die Redaktion der Zeitung "Sowjetische Kultur"
Die Redaktion der Zeitung "Moskowskaja Prawda"
Die Redaktion der Zeitung "Moskowskije Nowosti"

Der Künstlerische Rat und die Verwaltung des Moskauer Kreativlabors für Rockmusik sind befugt zu erklären:
Seit einigen Jahren werden in Moskau verschiedene illegale Magazine veröffentlicht: Ucho, Zombie, Urlayt, die einen unerbittlichen Kampf gegen alle Arten von Versuchen führen, Rockmusik zu sozialisieren, die eine harte antisowjetische Linie verfolgen, die einzelne staatliche Institutionen und Organisationen diffamieren sowie die sowjetische Ideologie und Kultur im Allgemeinen. Diese Zeitschriften erfreuen sich großer Beliebtheit bei Rockmusikliebhabern und prägen seit vielen Jahren den Geschmack und die öffentliche Meinung in Bezug auf bestimmte Gruppen, Einzelpersonen und Organisationen. Die Schaffung des Labors hat den Wirkungsmechanismus dieses Untergrunds gebrochen. Seit anderthalb Jahren sind alle Gruppen des Moskauer Rock (einschließlich solcher "Säulen" des Untergrunds wie Krematorium, Klänge von Mu, DK) unter Kontrolle und der Zustrom neuer Bands findet direkt ins Labor statt, unter Umgehung der "Generäle" des Untergrunds. Das gegenwärtige System erzeugt wütenden Zorn und zahlreiche Versuche, Rache zu nehmen und die Existenz des Labors zu beenden.

Der Künstlerische Rat und die Verwaltung des Rocklabors fordern, die Aktivitäten von M. Sigalov, I. Smirnov, A. Gildenbrandt und der hinter ihnen stehenden Personen zu stoppen und die Aktivitäten des Labors vor Verleumdungen und Provokationen zu schützen.
Das positive Aktionsprogramm der Gründungsorganisationen zur Überwindung der Krisensituation ist in der Arbeitsordnung dargestellt.«

Alexej Koblow, seinerzeit selbst im musikalischen Untergrund aktiv und Autor der ersten Biographie über den genialen Jegor Letow, erklärte im Interview für das Magazin Сибирь.Реалии (Sibirien.Realitäten) die Hintergründe:

»1986 und 1987 wurden wir für praktisch alles, einschließlich des Vertriebs von Underground-Magazinen, inhaftiert. Denunziationen wurden auch 1987 geschrieben. Insbesondere eine dieser Denunziationen wurde von vielen Personen des Felslabors unterzeichnet, darunter Artemy Troitsky, Pjotr Mamonow und Alexander Sklyar. Die Denunziation ging gegen uns, die Redaktion von "Urlayt" im Untergrund, im Rock Underground im Allgemeinen, weil wir uns nicht an ihre Regeln halten wollten. [...] Sie wollten die volle Kontrolle über alle Rockkonzerte zusammen übernehmen. Sie legalisierten ihre Aktivitäten, damit es keine Untergrundkonzerte gibt, bei denen sie oft vor den Bullen davonlaufen mussten. Viele unserer Freunde [...] wurden von dieser Legalisierung durch Komsomol-Mitglieder und KGB-Männer, die hinter ihnen standen, verführt. Ilya Smirnov, Herausgeber von Urlayt, war kategorisch dagegen. Er ist gelernter Historiker, kennt die Geschichte der Menschheit sehr gut und weiß, dass das Bündnis mit speziellen Diensten mit nichts Gutem endet. Es ist am besten, abseits zu stehen, und je weiter, desto besser. Und als die Leitung des Moskauer Rocklabors feststellte, dass ein Teil unseres Kreises nicht darauf aus war, dorthin zu gehen, wurden sie wütend und schrieben eine Denunziation, allerdings nicht an den KGB, sondern an das Parteikomitee der Stadt Moskau.«

[23] Igor Letow (†19.02.2008) war ein einflussreicher sibirischer Punkmusiker, Frontmann der Punkband Гражданская оборона (Zivilschutz) und Poet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Jegor_Letow

[24] Solodownikowa, Walerija: Rammstein: можем повторить? In: Ахилла, 11.04.2019
https://ahilla.ru/deutschland-rammstein-mozhem-povtorit/

[25] Interview mit РБК vom 7. Juli 2015
https://bit.ly/2OkdEQU (URL Shortener nach РБК)

[26] Interview in Сноб vom 05.09.2016
https://snob.ru/entry/99066/

[27] Sankin, Wladislaw: Skandalband "Leningrad": Vorreiter einer neuen Populärkultur. In: RT Deutsch, 30.07.2016
https://de.rt.com/unw

[28] Meldung in der Zeitung Sobaka vom 20. März 2019: https://bit.ly/2YA2eMZ
Meldung von РБК vom 26. März 2019:
https://bit.ly/2SXfZA0 (URL Shortener nach РБК)