Ost-Erweiterung - Lebenslüge der NATO und des Westens

»The three grand imperatives of imperial geostrategy are to prevent collusion and maintain security dependence among the vassals, to keep tributaries pliant and protected, and to keep the barbarians from coming together.«
Brzeziński, Zbigniew: The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives. S. 40 [1 Quelle]

Es wird ja in den Leit- und Qualitätsmedien und seitens diverser "NGOs" wie beispielsweise dem "Zentrum Liberale Moderne" des seinerzeitigen Pol-Pot-Fans Ralf Fücks - als quasi verbindlich angesehenes Narrativ - immer wieder und gerne behauptet, es habe 1990 weder Sicherheitsgarantien noch einen Verzicht auf eine NATO-Erweiterung Richtung Osten, also hinsichtlich der ehemaligen Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes, von James Baker, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl an Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse gegeben. Das ist eine Lüge und es ist seit der Freigabe der US-Dokumente amtlich - es gab sie sehr wohl und hier kann man es nachlesen. [2 Hinweise]
National Security Archive: NATO Expansion - What Gorbachev Heard https://nsarchive.gwu.edu/.../nato-expansion...
Hinweis: Das National Security Archive ist, obwohl es auf den ersten Blick so wirken könnte, keine Regierungsorganisation, sondern eine private Initiative. Die dort zitierten und gezeigten Dokumente sind jedoch Regierungsdokumente, die nach dem Freedom of Information Act (FOIA) freigegeben wurden.
Anmerkung: Die Ukraine betreffend - so auch im Wikipedia-Artikel zur NATO-Osterweiterung - wird oft von einer "zugesagten Einladung" gesprochen. Das ist nicht mehr aktuell, denn mittlerweile ist man über diesen Status hinaus - im März 2018 wurde der Ukraine offiziell der Status eines Beitrittskandidaten verliehen.

Hin und wieder jedoch wird diese Tatsache auch in den deutschen Leit- und Qualitätsmedien erwähnt, so ist zum Beispiel in diesen zwei Dokumentationen etwas zu sehen, was angeblich nie stattfand und anderenorts de facto nie gezeigt wird - Hans-Dietrich Genschers Statements vom 2. Februar 1990 zur Absprache der 2+4-Verhandlungspartner, die Grenzen der NATO nicht nach Osten auszuweiten, auch nicht in die gerade dahinscheidende DDR. Ich habe die entsprechenden Passagen in einem neuen Video als Ersatz einer älteren Version zusammengestellt.

Auszug Doku "Inside NATO: Krieg und neue Feinde"

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Allerdings waren Gorbatschow und Schewardnadse, der letzte Außenminister der UdSSR, so dämlich, den USA und ihren drei NATO-Vasallen am Verhandlungstisch zu vertrauen und ließen sich diese Absprache nicht schriftlich bestätigen. Der seinerzeitige Bundesminister des Auswärtigen Hans-Dietrich Genscher (21.03.1927 bis 31.03.2016), der dieses Amt 18 Jahre vom 16. Mai 1974 bis zum 18. Mai 1992 in sieben deutschen Regierungen und zwei Koalitionen bekleidete, erklärte auf einer, für die deutschen Vereinigungsprozess als grundlegend geltenden Rede vom 31. Januar 1990 vor der Evangelischen Akademie Tutzing dies:

»Im Warschauer Pakt verstärkt sich in Polen, in der CSSR und in Ungarn der Wunsch nach Abzug der sowjetischen Streitkräfte. Welche Auswirkungen das auf die Struktur und auf die Zukunft des Warschauer Pakts hat, kann derzeit nicht genau bestimmt werden. Es handelt sich dabei allein um eine Angelegenheit des Warschauer Pakts. Das Gebot der Nichteinmischung ist hier besonders ernst zu nehmen. Sache der NATO ist es, eindeutig zu erklären: Was immer im Warschauer Pakt geschieht, eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenze der Sowjetunion heran, wird es nicht geben. Diese Sicherheitsgarantien sind für die Sowjetunion und ihr Verhalten bedeutsam. Der Westen muß auch der Einsicht Rechnung tragen, daß der Wandel in Osteuropa und der deutsche Wiedervereinigungsprozeß nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen darf. Die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen, wird ein hohes Maß an europäischer Staatskunst verlangen. Vorstellungen, daß der Teil Deutschlands, der heute die DDR bildet, in die militärischen Strukturen der NATO einbezogen werden sollte, würden die deutsch-deutsche Annäherungen blockieren. Bedeutsam ist, sich Klarheit über die künftige Rolle der beiden Bündnisse zu verschaffen. Sie werden von der Konfrontation zur Kooperation übergehen und Elemente kooperativer Strukturen der Sicherheit in ganz Europa werden. Das westliche Bündnis wird nach dem Willen seiner Mitglieder fortbestehen, denn die Bündnisse haben auch in Zukunft friedensichernde und stabilisierende Funktion«
Rechtschreibung wie im Original, Hervorhebung nicht im Original [3 Quellen]

Der vollständige Text wurde seinerzeit in den Mitteilungen für die Presse des Bundesministers des Auswärtigen Nr. 1026/9 und in den Tutzinger Blätter 2/90 veröffentlicht, ist aber unter diesen Quellen und anderweitig nicht ohne größeren Aufwand zu finden, zumindest ist es mir nicht gelungen. In seinen Memoiren fasste Genscher sich zur Tutzinger Rede sehr kurz und erwähnte die zentrale Passage " eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt, näher an die Grenze der Sowjetunion heran, wird es nicht geben" mit keinem Wort. [4 Quelle]

Eine im Westen beliebte Darstellung gibt der ansonsten von mir hochgeschätzte Sönke Neitzel in der Dokumentation "Inside NATO" (im Original ab 00:06:02) wieder, nämlich die, dass souveräne Staaten ihr Bündnis frei wählen könnten, was sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ergäbe. Das ist so gesehen Blödsinn, weil dieses Selbstbestimmungsrecht zwar das Recht einer diesbezüglichen Bitte um Aufnahme in ein Bündnis impliziert, sich aber daraus noch lange keine Verpflichtung des Bündnisses ergibt, dieser Bitte nachzukommen - die Geschichte um die Aufnahme Spaniens in die NATO zeigt das.

Das tatsächlich hinter der NATO-Osterweiterung stehende Konzept ist sehr alt. Es heißt Intermarium, wobei mit den Meeren die Ostsee und das Mittelmeer gemeint waren und seit den 2000er Jahren um das Schwarze Meer erweitert sind. Er stammt aus dem späten 15. Jahrhundert, der Zeit der Entstehung der Rzeczpospolita, der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik und war ursprünglich ein geopolitisches Konzept zur Eindämmung des Machtbereichs des Russischen Reiches. Es war nach dem Zerfall der Rzeczpospolita und der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 obsolet, wurde aber als Międzymorze in der Zwischenkriegszeit in der Zweiten Polnischen Republik (II. Rzeczpospolita) durch Józef Piłsudski wiederbelebt, allerdings erneut erfolglos. Das Międzymorze-Konzept nach Piłsudski sollte aber nicht nur einen Block nach Osten bilden, sondern Deutschland geostrategisch von Russland isolieren, was in Piłsudskis Vorstellung wegen der drei Teilungen Polens erforderlich war, um eine vierte Teilung zu verhindern.
Heute sind die in und um RAND, CFR, Open Society und anderenorts versammelten Geostrategen mit dem "Grand Chessboard" (Zbigniew Brzeziński) längst weit über Intermarium heraus. Es geht seit den 1990er Jahren nicht mehr um eine bloße Eindämmung, sondern um die Zerschlagung der Russländischen Föderation in möglichst kleine, regionale Einheiten nach dem Muster der ehemaligen Bundesrepublik Jugoslawien, wobei die Ukraine und Georgien eine Schlüsselrolle spielen. [5 Hinweise, Quellen]
Eine Intention Piłsudskis ist jedoch bis heute erhalten geblieben, wenn auch aus anderen als den ursprünglichen Gründen. George Friedman, Gründer und Chairman (CEO) der Thinktanks Stratfor (bis 2015) und Geopolitical Futures, erläutert das auf einer Veranstaltung des Chicago Council on Global Affairs am 03.02.2015 zum Thema "Europe: Destined for Conflict?" so:
"For the United States the primarily fear is German technology and German capital, Russian natural resources and Russian manpower as the only combination that has for centuries scared the hell at the United States." [6 Quelle]
Insgesamt ist die NATO-Osterweiterung ein wichtiger Teil des Konzepts der globalen Vorherrschaft der USA, wie Zbigniew Brzeziński sie 1997 ausführlich darlegte. Der Kern dieser Politik ist in diesem Zitat erfasst.

»Aber keines dieser Reiche beherrschte die Welt. Nicht einmal Großbritannien war eine wirkliche Weltmacht. [...] Im Gegensatz dazu ist der Geltungsbereich der heutigen Weltmacht Amerika einzigartig. Nicht nur beherrschen die Vereinigten Staaten sämtliche Ozeane und Meere, sie verfügen mittlerweile auch über die militärischen Mittel, die Küsten mit Amphibienfahrzeugen unter Kontrolle zu halten, mit denen sie bis ins Innere eines Landes vorstoßen und ihrer Macht politisch Geltung verschaffen können. Amerikanische Armeeverbände stehen in den westlichen und östlichen Randgebieten des eurasischen Kontinents und kontrollieren außerdem den Persischen Golf. Wie die folgende Karte zeigt, ist der gesamte Kontinent [Gemeint ist der eurasische. Anm. Kupfer] von amerikanischen Vasallen und tributpflichtigen Staaten übersät, von denen einige allzu gern noch fester an Washington gebunden wären. Die Dynamik der amerikanischen Wirtschaft schafft die notwendige Voraussetzung für die Ausübung globaler Vorherrschaft.«
Brzeziński, Zbigniew: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. [7 Quellen]

Ich erörtere den Themenkomplex "United States of Agressors vs. Russland" ausführlicher in diesen Texten:
The Grand Chessboard - USA vs. Russland. Nuland, die Thinktanks und Biden https://www.mentopia.net/...biden
The Grand Chessboard - USA vs. Russland. Idioten, Imperialisten und Geostrategie https://www.mentopia.net/...geostrategie
Nawalny, Nowitschok, Nord Stream 2 - Versuch der Analyse einer Nebelwand https://www.mentopia.net/...nawalny

Fußnoten und Quellen

[1] Brzeziński, Zbigniew: The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostrategic Imperatives. Basic Books, New York 1997, S. 40

[2] Eduard Amwrossijewitsch Schewardnadse: Министр иностранных дел СССР (Außenminister der UdSSR) 1985 bis Ende 1990 sowie November/Dezember 1991 https://de.wikipedia.org/wiki/Eduard_Schewardnadse
James Baker: United States Secretary of State der USA (Außenminister) von 1989 bis 1992 ttps://de.wikipedia.org/wiki/James_Baker
Hans-Dietrich Genscher: Bundesminister des Auswärtigen (Außenminister) von 1974 bis 1992 https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Dietrich_Genscher

[3] Brinkmann, Peter: Der Preis der Deutschen Einheit: Michail Gorbatschow und die NATO 1989/90. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020 https://bit.ly/2Q2DiLb (S. 197
Heumann, Hans-Dieter: Hans-Dietrich Genscher: Die Biographie. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2012 https://bit.ly/39NaJbL (S. 280)
Oldenburg, Fred: Deutsche Einheit und Öffnung der NATO. Köln, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien. Berichte 52-1996 https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/4274

[4] Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen. Wilhelm Goldmann Verlag, München 1997, S. 713ff.

[5] Międzymorze https://de.wikipedia.org/wiki/Międzymorze
Stratfor: The Revival of Intermarium https://worldview.stratfor.com/article/revival-intermarium...
South Front: Wer baut das Intermarium? https://de.southfront.org/wer-baut-das-intermarium-zwischenmeer/
South Front gilt wackeren Demokraten als als "pro-Kremlin domain" und als "a professional info-war project run or backed by the Russian military", welches "is a fascinating hybrid of revealingly detailed military intelligence and totally bogus stories" (Wilfried Martens Centre for European Studies; Brüssel). Ich warne also nachdrücklich vor allzu langem Verweilen auf dieser Seite, sofern Sie nicht russophilisiert werden wollen.

[6] George Friedman: "Europe: Destined for Conflict?" https://www.youtube.com/watch?v=vmmvaPOMrNs

[7] Brzeziński, Zbigniew: Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Kopp Verlag e.K., Rottenburg am Neckar 2019, S. 38

Quellen Video

Videoausschnitte
Russen und Deutsche: 7 Historische Wendepunkte
Erstausstrahlung: Phoenix 28.02.2021, 14:00 Uhr, Ausschnitt ab 36:51
phoenix history - Deutsche und Russen: https://bit.ly/30gIb5m
Quelle (ARD-Mediathek): https://bit.ly/3efmfjb (Speicherdauer bis 28.02.2026)
Quelle (MediathekView): https://bit.ly/3c9vkr3 (Speicherdauer ungewiss)
Inside NATO - Krieg und neue Feinde
Erstausstrahlung: ZDFinfo 11.09.2019, 21:45 Uhr, Ausschnitt ab 04:28
ZDF-Presseinfo: https://bit.ly/2O1NOC6
Quelle (MediathekView): https://bit.ly/3kTe0e3 (Speicherdauer ungewiss)
Bildquellen
U.S. spheres of influence: Matt Wuerker am 04.03.2014, https://politi.co/3rDdljD
NATO-Osterweiterung: Jakob Reimann, 31.05.2016, https://bit.ly/3kRGGEa Lizenz CC BY-SA 2.0 https://bit.ly/3blbVV4
Musikquelle
Zombie Invasion (2015) - GEMAfreie Musik von https://audiohub.de